Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
fertig, eine Frau zu lieben und zu begehren, die selbst ebenfalls begehrt? Eine ganz normale Frau eben! Wie, bitte schön? Kann ihm das vielleicht mal jemand erklären? Und, was das Schlimmste ist: Er kann nicht einmal zu einer Nutte gehen, das würde er nie und nimmer aushalten! Dabei ist er gerade an den Hallen vorbeigelaufen und wie durch Zufall in der Rue Saint-Denis gelandet. Er studiert die Plakate:
THAI-MASSAGE
LUSTVOLLE GANZKÖRPERENTSPANNUNG
30 EURO
Klingt verlockend. Aber nein. Ich bin Bulle, ich darf da nicht reingehen, mahnt er sich. Allenfalls zu einem Verhör. Und außerdem ist es böse. Die Frauen werden ausgenutzt. Das ist böse. Immer wieder meldet sich seine Mutter im Hintergrund. Aber nicht nur sie. Jeans Vater war ein bretonischer Kommunist. Schlimmer als ein Katholik. Und weil es bei den Kommunisten keine Beichte gibt, konnte er nicht einmal Dampf ablassen. Der Pfaffe saß in seinem Kopf. Politische Aktivität ersetzte das Gewissen. Grübelnd verlässt Jean das gefährliche Viertel. Hier kann er keine Erleichterung finden. Er würde sich anschließend so beschmutzt fühlen, dass er sich diese Erfahrung lieber erspart.
Trotzdem geistern Versuchungen durch seinen Kopf. Seit so langer Zeit … Seit den ersten feuchten Träumen, aber auch schon davor. Wie die brutale Lust, die ihn überkam, wenn er mit der Lupe in der Sonne Ameisen verbrannte. Damals fühlte er sich nicht sonderlich schuldig. Eigentlich wurde es erst in der Pubertät schlimmer. Aber warum? Der Blick seiner Mutter hatte sich verändert, er war strenger geworden. Dabei bewegte er sich doch schon in engen Grenzen. Manchmal flüsterte ihm ein kleines Stimmchen zu: »Wenn du dich ohnehin schlecht fühlst und so schweinisch bist wie alle Männer, dann verhalte dich doch auch so! Begnüg dich nicht damit, nur den Preis dafür zu zahlen.« Aber das überstieg seine Kräfte. Ab und zu hatte er eine Freundin, aber die Frauen verschwanden immer schnell, wenn sie keine Lust mehr hatten, sich anschließend schmutzig zu fühlen. Vor vielen Jahren hatte eine Frau nach dem Liebesakt zu ihm gesagt: »Ich habe den Eindruck, du verabscheust mich.« Er hatte eine Entschuldigung gestammelt – dass das ganz und gar nicht stimme und er sich nur ärgere, zu schnell gekommen zu sein und sie nicht befriedigt zu haben.
»Das ist mir doch völlig egal. Weißt du, um sicher zum Orgasmus zu kommen, brauche ich keinen Mann, verstehst du? Aber du siehst mich an, als wäre ich der letzte Dreck. Oder als hätte ich dich gezwungen, ekelhafte Dinge mit mir zu machen. Und das ertrage ich einfach nicht.«
Er hatte sie nie wiedergesehen. Das Gespräch allerdings war ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Er war verloren. Nur allzu gern hätte er geschrien und geweint. Aber nicht hier auf offener Straße. Und außerdem: Schreien – das wäre ja vielleicht noch angegangen. Aber weinen? Einfach so die Tränen laufen lassen? Nun …
Verstört bleibt er stehen. Was will er hier eigentlich? In der Rue au Maire gibt es altmodische Chinesenläden. Die Kunden stammen aus den abgelegensten Dörfern. Weiter. Vielleicht ist ja noch etwas offen. Tsingtao-Bier, ein paar Litschis – irgendetwas zur Beruhigung. Er geht am Tango vorbei und erinnert sich an eine hauptsächlich von Schwarzen frequentierte Disco, die er irgendwann kurz nach seiner Ankunft in Paris einmal besucht hat. Es war furchtbar gewesen. Er konnte nicht tanzen und musste zusehen, wie seine Freundin von schönen, schwarzen Männern angebaggert wurde, die Musik im Blut hatten. Als er aufblickt, sieht er eine Leuchttafel, die einen »Schwulen- und Lesbenball« ankündigt. Das gibt ihm den Rest. Er lehnt sich an eine Hauswand und wartet darauf, dass sein Schädel zerplatzt. Einfach zerplatzt. Bum! Überall liegen Schädelsplitter herum, und Hirnmasse klebt an der grauen Mauer. Jean schließt die Augen, atmet tief durch und erinnert sich an die Hinweise in einem Heftchen mit Entspannungsübungen, das ihm Léna einmal nach einem stressigen Tag in die Hand gedrückt hat. Er hält die Luft an und zählt langsam bis fünf, ehe er ausatmet. Langsam. Ganz langsam. Drei Mal wiederholt er die Übung. Als er die Augen wieder öffnet, steht eine blonde, uniformierte Polizistin vor ihm und blickt ihn aus blauen Augen an. Seltsamerweise sind auch die Augen der bei der Stadt Paris beschäftigten Müllarbeiter häufig blau. Das Polizeiauto parkt an der Ecke vor einem Zigarettenladen, wo sich ihre Kollegen gerade
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