Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Umschlag mit einem spitzen Messer und zieht den Brief heraus, der mit den einzigen Worten beginnt, die er auf Arabisch lesen kann: Bismillah ar-Rahman ar-Rahim, »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes«. Danach aber geht es größtenteils auf Französisch weiter.
»Lieber Cousin,
al Hamdulillah endlich ist das Semester vorüber, und ich habe Ferien. Ich schreibe Dir, um Dir mitzuteilen, dass ich den Sommer bei Dir in Paris verbringen möchte. Ich hoffe, das stört Dich nicht, oder? Jedenfalls werden wir bald das Vergnügen haben, uns wiederzusehen. Lieber Cousin, ich möchte es für heute dabei belassen und Dir noch einmal für Deinen brüderlichen Empfang danken.
Gott segne Dich. Bis bald, inch Allah ,
Mohamed«
Nachdenklich lässt Ahmed den Brief sinken. Mohamed kommt wieder zu Besuch. Seltsamerweise freut er sich darauf, obwohl es ihm schwerfällt, seinen engen Lebensraum mit jemandem zu teilen. Obwohl Mohamed mit Bismillah , Hamdulillah und Gott segne dich ziemlich dick aufgetragen hat – immerhin eine ganze Menge für die paar Zeilen. Vor allem an diesem Abend nach der Begegnung mit Moktar. Die erste Strophe von John Lyndons Religion fällt ihm ein.
Stained glass windows keep the cold outside
While the hypocrites hide inside
With the lies of statues in their minds
Where the Christian religion made them blind
Where they hide
And prey to the God of a bitch spelled backwards is dog
Not for one race, one creed, one world
But for money
Effective
Absurd
Immer noch sitzend summt Ahmed die Bassstimme. Tudududu dudu, tudududu dudu. Dann setzt die Gitarre ein. Tananana nananana tananana nananana, tananana nananana tananana nananana. Er fühlt sich mittendrin, wie damals mit dreizehn, als er PIL mit diesem Stück entdeckte, kurz nachdem er Sympathy for the Devil zum ersten Mal gehört hatte. Danach hatten Moktars Dummheiten keinen Einfluss mehr auf ihn. Ahmed steht auf und singt lauthals weiter.
This is religion
There’s a liar on the altar
The sermon never falter
This is religion
This is religion
Your religion
And it’s all falling to bits gloriously
Ah! Allein die Blasphemie ist das Wahre! Die Blasphemie und der Tanz. Sofort fühlt Ahmed sich leichter. Trotzdem ist es merkwürdig, wie schwer der Islam auf ihm lastet, obwohl ihn seine Mutter nie religiös erzogen oder ihn zu irgendetwas gezwungen hat. Ganz abgesehen davon, dass ihr das niemals gelungen wäre …
Ruhig legt Ahmed sich auf sein Bett und überprüft die Fakten, die er kennt: Moktar, die Schweinefleischfresser-Beleidigung, der Schweinebraten. Nein, nein, nein. Das kann kein Zufall sein. Er schließt die Augen und driftet ab. Über das Gesicht des schwarzen Salafisten legt sich das des jüdischen Frisörs Sam mit dem seltsamen Ausdruck heute Morgen. Noch einmal lässt Ahmed in Zeitlupe die Szene mit Moktar ablaufen. Er lässt ihn an sich vorübergehen, dreht sich um und stellt fest, dass er verschwunden ist. Moktar muss sich zu diesem Zeitpunkt auf Höhe des Gemüseladens befunden haben, der gleich neben dem Frisör liegt. Er kann also sowohl dort als auch zu Sam hineingegangen sein. Da er aus dem Viertel stammt, ist es möglich, dass er im Gemüseladen Freunde oder Verwandte hat. Nein, das stimmt so nicht! Moktar gehört den Soninké an. Er kann also nur zum Frisör gegangen sein. Allerdings mit Sicherheit nicht, um sich die Haare schneiden zu lassen. Aber was macht das alles für einen Sinn? Ahmed kann die Beweggründe von Sam und Moktar nicht nachvollziehen, aber er weiß genau, was passieren wird: Sie werden gegenüber der Polizei eine Menge Andeutungen in Bezug auf ihn machen. Vielleicht nicht einmal auf direktem Weg, sondern zum Beispiel über Fernanda oder indem sie einen anonymen Brief schreiben. Für Ahmed geht es darum, ihnen entgegenzuarbeiten. Er muss vorausschauend handeln und richtig reagieren. Es ist wichtig, dass er eine Spur oder einen Hinweis entdeckt, bevor Rachel und Jean ihn erneut befragen. Dabei hat er einen eindeutigen Vorteil: Er ist ein Meister darin, sich dumm zu stellen. Und vorläufig sollte besser niemand erfahren, dass er aus seinem Dämmerzustand aufgewacht ist. Der Tagträumer Ahmed wird seine Angewohnheiten beibehalten: Monsieur Paul, Supermarkt, Bäcker. Und morgen, wenn er vom Therapeuten zurückkommt, wird er sich einen Haarschnitt bei Sam gönnen. Der letzte liegt immerhin schon zwei Monate zurück. Es ist also höchste Zeit. Genug gegrübelt! Schlafenszeit. Ahmed will schlafen und
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