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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Jérémie verprügelt – ein Ausbruch ungezügelter Energie und einer anderen Kraft, die alle Gedanken ausschaltet. Wie ein Flash, ein weißer Blitz. Jean hat Heroin nie mehr als nur geschnüffelt, aber so ähnlich stellt er sich die Wirkung vor, wenn man sich einen Schuss setzt. Immer draufhauen. Hau drauf! Hau drauf!
    NIEDERKNÜPPELN DURCHPRÜGELN
    DIESE WIDERLICHE KATZE AUSLÖSCHEN
    BIS DAS ARSCHLOCH KREPIERT
    UND DIE WELT ENDLICH BEFREIT IST VON DIESEM SCHEISSVIEH
    Den kleinen, braven Jean gibt es nicht mehr, diesen freundlichen Jungen, der sich nie in den Vordergrund spielt und der sich mit Scham und Schweigen begnügt. Nur Taten sind gefragt. Tod im Einsatz. Bewegung. Ewig wiederholte Gesten, immer und immer wieder. Oh Scheiße!
    Und plötzlich fährt die Katze ihre Krallen aus. Erschrocken lässt Jérémie das Tier los und blickt Jean an. Die Katze verschwindet. Der Freund stottert: »Du … du … hättest sie beinahe totgeschlagen«, dann steht er auf und verschwindet ebenfalls. Jean bleibt auf dem bemoosten Grab von Pierre Le Bouennec sitzen. 1903–1971 steht auf dem Stein. Er beobachtet seine rot gestriemten Hände und berührt seinen Hals, von dem Blut tröpfelt. Die Krankenschwester – seine Mutter – versorgt zu Hause seine Wunden, ohne Fragen zu stellen. Sie spürt seine Befindlichkeiten für gewöhnlich, und ihre wirksamste Waffe sind ihr Schweigen und ihr Blick, die alles zu wissen und zu durchschauen scheinen. Jedes Schweigen zurrt die Fesseln des kleinen Jean fester. Der Vorfall mit der Katze setzt seiner sadistischen Phase ein Ende. Von diesem Tag an geht er gegen sich selbst vor. Hauptsächlich in Gedanken. Aber es geschieht durchaus, dass er sich verletzt: Stürze, Verbrennungen, Prellungen jeder Art. Und immer verarztet ihn seine Mutter. Wortlos.
    Noch nie hat er mit jemandem darüber gesprochen. Hätte er Léna später kennengelernt, wäre er vielleicht eines Tages über seinen Schatten gesprungen. Aber sie waren erst siebzehn Jahre alt, als sie in Saint-Pol-de-Léon miteinander ausgingen, nicht das richtige Alter für Erklärungen. Erst in der letzten Zeit vertraut er ihr dann und wann etwas an. Angesichts seines fast greifbaren Kummers hat Léna ihm vorgeschlagen, eine Therapie zu machen. Sie selbst geht seit vier Jahren zu einem Psychoanalytiker und fühlt sich seither deutlich besser. Beide haben die gleichen bretonischen Wurzeln, sind katholisch und kommunistisch geprägt (sie haben sich bei der kommunistischen Jugend in Saint-Pol-de-Léon kennengelernt), und Léna geht davon aus, dass eine ähnliche Behandlung ihrem Polizisten-Kumpel nicht schaden kann.
    »Weißt du, Jean, Freud war Jude und lebte in einem katholischen Land. Er stand der Religion kritisch distanziert gegenüber, und zwar sowohl seiner eigenen als auch ganz besonders der unseren. Außerdem glaubte er nicht an den Kommunismus. Er kannte die Menschen zu gut, um sein Heil in einer Erlösungsideologie zu suchen. Der einzige Bereich, der bei ihm offensichtlich ein wenig zu kurz gekommen ist, ist die Mutterbeziehung. Man muss schon Lacan lesen und sich noch einmal Das Fest ansehen, um zu verstehen, wie wichtig es ist, sich von seiner Mutter zu lösen. Aber die meisten Psychiater hier in Paris sind ohnehin Anhänger Lacans. Ich bin ganz sicher, dass dir eine Behandlung wirklich guttun würde. Obwohl ich das eigentlich so nicht sagen sollte. Denn ganz egal, ob Analyse oder Therapie – der Erfolg hängt davon ab, ob der Patient sich wirklich helfen lassen will. Scheiße, was bin ich heute ernst! Und wie ich rede! Vergiss einfach, was ich gesagt habe. Trinken wir noch eine halbe Flasche?«
    Jean beobachtet seine Umgebung. Die Chinesenkneipe ist noch immer da. Die Alten räumen die Mah-Jongg-Steine zusammen. Die Kellnerin stützt sich mit den Ellbogen auf den Tresen und lässt ihren Blick zerstreut auf Jean ruhen. Es ist Zeit. Jean hat sein Tsingtao ausgetrunken, ohne es überhaupt zu bemerken. Er steht auf, bezahlt und nimmt die unangetastete Chipstüte mit. Seine Ruhe ist zurückgekehrt. Die Krise ist vorbei. In seinem Innern hat sich eine Öffnung aufgetan, von der er nicht will, dass sie sich wieder schließt.

13
    Ahmed hat sich keinen Joint gebaut, sondern das Gras, das Al ihm geschenkt hat, lieber in der Brusttasche eines sauberen Pyjamas verstaut. Er weiß um seinen Hang zur Paranoia und versucht diesen einzudämmen, während sein Gehirn sich ganz unwillkürlich damit beschäftigt, dem Zusammentreffen mit Moktar einen

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