Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Sinn zu verleihen. Ahmed glaubt dabei weder an eine Verschwörungstheorie noch an einen echten Zufall. Seit vier Jahren hat Moktar nicht mehr mit ihm geredet. Wenn sie sich auf der Straße begegnen, gehen sie sich schweigend und ohne jegliche Aggression aus dem Weg. Sie waren gleichzeitig in Maison-Blanche, allerdings nicht aus den gleichen Gründen. Gemocht haben sie sich nie. Einmal wäre ein Streit beinahe eskaliert. Eine Pflegerin musste sie trennen, und seither gehen sie sich einvernehmlich aus dem Weg. Ahmed hat sich später mit der Pflegerin angefreundet. Rita. Eine hochgewachsene Rothaarige. Schon damals stand er auf Rothaarige. Einmal, während eines Gesprächs, entschlüpfte Rita Moktars Diagnose: Degenerative paranoide Psychose. Absolut unheilbar. Im Verlauf der Jahre hat sich nach und nach der Geist der Zeit in Moktars Krankheit geschlichen. Schon in Maison-Blanche begann er, von Gott zu sprechen, sein Aufenthalt in der Heimat hatte den Boden dafür geebnet. Plötzlich hat Ahmed eine Vision. Vage und unpräzise zeichnet sich die Struktur des Verbrechens in seinem Kopf ab. Er muss unbedingt das Gesicht des Mörders noch einmal sehen. Also schlafen. Vielleicht vorher doch noch einen kleinen Joint? Nein, es ist zu früh. Und nicht in der Wohnung. Er ist kurz versucht, Rachel anzurufen. »Hallo, hier ist Ahmed. Ich habe ziemlich guten Thai. Vielleicht können wir unsere Diskussion über Ellroy fortsetzen …« Ahmed gönnt sich ein kurzes Lachen und einen Sekundentraum von Liebe, ehe er wieder zu Moktar zurückkehrt. Der psychotische Salafist passt zwar ins Bild, ist aber nicht der Mörder, das spürt Ahmed irgendwie am Rand seines Wahrnehmungsfeldes. »Schweinefleischfresser.« Bescheuert. Was haben die bloß alle damit? Rein oder unrein – den Unterschied hat Ahmed nie wirklich verstanden. Allerdings hat Latifa ihn mit diesen Dingen auch weitestgehend in Ruhe gelassen. Zu Hause wurde eigentlich alles gegessen und getrunken. Und bei seinen wenigen Freundinnen hat sich Ahmed nie um die Daten ihrer Monatsregel gekümmert. Wenn er es recht bedenkt, mag er den Geschmack von Blut sogar ganz gern. »Den Geschmack von Blut?«, hört er plötzlich eine innere Stimme fragen, die ihn stark an Dr. Germain erinnert. Scheiße, das kann doch wohl nicht wahr sein! Jetzt habe ich schon einen Seelenklempner im Kopf!, ärgert sich Ahmed, dem jetzt erst bewusst wird, wie hungrig er ist. Er beschließt, sich einen Affront gegen Moktar zu gönnen, und öffnet eine Packung Tortellini mit Schinken. Wasser aufsetzen. Ahmed wartet, bis das Wasser sprudelt, und unterdrückt mühelos die plötzliche Anwandlung, seinen Kopf in das kochende Wasser zu tauchen. Tortellini Barilla. Elf Minuten Kochzeit. Ein Esslöffel Olivenöl, Salz, Pfeffer. Kein Parmesan. Als er sich setzen will, fällt ihm Mohameds Brief ins Auge. Er beschließt, ihn für später aufzuheben, und isst langsam und ohne sich die Zunge zu verbrennen. Ausnahmsweise.
Er sitzt auf seinem Futon, lehnt sich an ein Ikea-Kissen namens Gosa Gott mit einer Seitenlänge von fünfundsechzig mal fünfundsechzig Zentimetern und lauscht. Das macht er oft, wenn er sich selbst vergessen und aus seinem Kopfgefängnis hinauswill. Er lauscht auf die kleinen Geräusche des schlecht schallisolierten Hauses. Oft ist es der Ton eines Fernsehers, wie an diesem Abend. Nachrichtensendungen erträgt Ahmed nicht. Die Gewalt kommt durch die Wände und dringt in ihn ein, auch wenn er die Worte nicht versteht. Das Skandieren, die Geschwindigkeit und die Tonlage – alles klingt aggressiv und verlogen. Und Werbung ist wie ein lautes Kreischen. Nein – was Ahmed liebt, ist die beruhigende Welt amerikanischer Serien. Er selbst möchte keinen Fernseher haben, aber der durch schlechten Beton gedämpfte Klang der Serien hat auf ihn die Wirkung von Lexomil. Das passt insofern gut, als er schon lange keine Beruhigungsmittel mehr nimmt; er zieht es vor, entweder nicht zu schlafen oder Alkohol zu trinken. Manchmal profitiert Ahmed auch von seiner Nachbarin, wenn sie die Sender TF1 oder M6 einschaltet. Er hört zu, und langsam weicht jeglicher Druck. Fffffuuuhhh, wwwuuusch, bzzziiisssch. Uuuuhhh. Die Augen schließen und einfach liegenbleiben. Dann die Augen wieder öffnen und die rissige Zimmerdecke betrachten. Die Augen öffnen. Unbeweglich. Noch fünf Minuten.
Er steht auf. Ganz langsam. Geht zum Tisch und trinkt ein Glas Wasser. Nimmt den Brief. Setzt sich auf den orangefarbenen Klappstuhl, öffnet den
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