Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
träumen.
Es ist dreiundzwanzig Uhr.
14
Der Mann ist allein im Versammlungsraum, der nur durch das Licht der Straßenlaterne schwach erhellt ist. Er sitzt vornübergebeugt mit dem Kopf in den Händen in einem schwarzen Sessel. Das Handy auf dem Tisch beginnt zu vibrieren. Der Mann hebt den Kopf und blickt verstört auf den Apparat. Die Anruferkennung ist ausgeschaltet. Es klingelt schon zum achten Mal.
»Hallo?«
»Hi, it’s me. Susan.«
Nach kurzem Zögern antwortet er auf Englisch mit einem starken französischen Akzent.
»Hi, Susan.«
»I have a surprise for you.«
»A surprise?«
»I’ll be in Paris this weekend. Ain’t that great?«
»But …«
»Don’t worry! James took care of everything. You’ll have a perfect excuse for your wife.«
»I can’t leave right now, Susan.«
»You’ll receive the travel order tomorrow from the Center. I’ll be waiting for you at the hotel Concorde Lafayette. Room N° 1227, Saturday at 3 pm. Oh, I’m so excited! Please tell me you can’t wait to see me.«
Er bemüht sich um eine feste Stimme, doch so ganz gelingt ihm das nicht. »It will be a pleasure, Susan. Of course.«
Susan schmatzt einen Kuss in den Hörer und legt auf. Der Mann legt das Telefon wieder auf den Tisch und verfällt erneut in seine bedrückte Haltung.
In einer Telefonzelle betätigt ein Mann sein Feuerzeug, um eine kostenlose Servicenummer entziffern zu können, die auf einem Stück Papier notiert ist. Er wählt, lauscht den Anweisungen einer unpersönlichen, weiblichen Stimme und wählt im Anschluss eine Nummer in Paris, die mit einem Doppelkreuz endet. Beim vierten Läuten hebt ein im Halbdunkel vor einem Spiegel sitzender Mann mit einem Café-Creme-Zigarillo zwischen den Lippen den Hörer eines grauen Tastentelefons aus den frühen 1980er Jahren ab. Rauchend hört er zu, wie sein Gesprächspartner sich aufregt.
»Was soll der Quatsch?«
»Hör zu …«
»Nein, jetzt hörst du mir erst einmal zu. Du hast richtig Mist gebaut. Da vertraut man dir eine einfache Aufgabe an, und was passiert? Die Folgen siehst du ja.«
»Aber der Dicke hat beschlossen, die Sache von seinem Bruder erledigen zu lassen. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Ganz gleich, was der Dicke beschließt oder auch nicht – du hättest dich an die Abmachungen halten müssen. Der Dicke hat ein breites Kreuz. Wichtig ist jetzt, dass du den Kontakt abbrichst und deine Leute darüber informierst, dass alles abgeblasen ist.«
»Auch das, was schon losgetreten ist?«
»Das, was schon losgetreten ist, bleibt, wie es ist. Aber ansonsten verhalten wir uns ruhig, bis wir neue Order erhalten.«
Der Zigarilloraucher legt auf und hebt sofort wieder ab, um eine Handynummer zu wählen. Nach zweimaligem Klingeln meldet sich eine tiefe Stimme mit einem schwer zu definierenden Akzent.
»Bist du es?«
»Wer sonst?«
»Ich habe zu tun. Es ist Zeit für …«
»Es dauert nicht lang. Ist mein Neffe schon unterwegs?«
»Ja.«
»Okay. Er soll alles machen wie besprochen, aber sofort danach nehmen wir uns frei. Wir setzen für einige Zeit aus.«
»Wieso das denn? Wir haben schließlich Pläne und werden gebraucht …«
»Es wird vermutlich nicht sehr lange dauern, aber im Augenblick ist es erst mal so. Wir befolgen die Anweisungen, wir befolgen jetzt die Anweisungen …«
Der Mann aus der Telefonzelle schlendert durch die menschenleere Straße. Eine aus dem Nichts aufgetauchte Gestalt gesellt sich zu ihm.
»Salam.«
»Richtig. Salam .«
»Was ist los? Du wirkst irgendwie nervös.«
»Jemand hat Mist gebaut. Ihr müsst von der Bildfläche verschwinden.«
»Aber bitte nicht sofort. Lass uns noch ein bisschen Zeit. Wir haben noch nicht einmal zwanzig Prozent der Vorräte.«
»Zehn Prozent, zwanzig Prozent – das geht mir jetzt am Arsch vorbei. Wir tauchen ab, lassen das Gewitter vorüberziehen und sehen dann weiter. Du hast deine Leute doch unter Kontrolle, oder?«
»Logisch.«
»Na also. Ende der Diskussion. Ich melde mich bei dir.«
»Friede sei mit dir, Bruder.«
»Schon gut. Mit dir auch. Bis neulich.«
Rachel schläft wie ein Kind. Ausgeliefert. Sie träumt nicht und atmet friedlich, als plötzlich das Telefon klingelt. Noch ehe sie die Augen öffnet, weiß Rachel, dass es drei Uhr ist und dass Bintou und Aïcha anrufen. Sie nimmt ihr Handy, registriert, dass es sechs Minuten nach drei ist und dass von Aïchas Apparat angerufen wird. Sie drückt die grüne Taste.
»Hallo?«
»Hallo, Lieutenant Kupferstein? Ich
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