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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Chefin:
    »Susan, wo bist du gewesen?«
    »Na, ich habe die Akte Weißrussland gesucht.«
    »Und dafür brauchst du eine geschlagene Stunde?«
    Susan antwortet nicht. Das Ganze ist nur ein Spiel. Neun Minuten lang gibt sich Susan als brave Angestellte, blättert in der Akte und füllt ein paar Zeilen einer Excel-Tabelle. Schließlich wendet sie sich ungezwungen an die Kolleginnen.
    »Ich muss heute Mittag übrigens etwas erledigen und kann nicht mit euch essen.«
    Mit diesen Worten steht sie auf und geht. Die drei frustrierten Kolleginnen blicken ihr nicht einmal nach. Nur die Chefin grummelt leise vor sich hin: »Also, ich weiß nicht – wenn ihr Vater nicht ihr Vater wäre …«
    Die junge Frau geht entschlossen in Richtung Ausgang. Diskret nimmt sie ihr Handy aus einer schwarzen Ledertasche, die denen der anderen Leute im Flur sehr ähnlich sieht. Prüfend blickt sie rechts und links. Sie will sicher sein, nicht beobachtet zu werden, als sie ihr Handy in der Handfläche verbirgt und die SMS öffnet, die James ihr an diesem Morgen geschickt hat. Auf dem Display taucht ein Smiley auf, das ihr das zweite Lächeln dieses Tages entlockt. Susan und James werden heute achtundzwanzig, aber James ist dienstlich in Belize, deshalb kann sie ihren Geburtstag mit niemandem feiern. Sie darf es auch sonst niemandem sagen, denn ganz gleich, wer ihr Vater ist – eine der wichtigsten Regeln der Organisation darf niemals gebrochen werden. Und genau aus diesem Grund bedeutet ihr der Smiley ihres Bruders so viel. Er erinnert sie daran, dass sie nicht allein ist. Seit sie neun Jahre alt sind, bemühen sich Susan und James an jedem 23. September darum, irgendetwas Besonderes zu machen oder sich zumindest gegenseitig ein kleines Zeichen oder eine Aufmerksamkeit zu schicken. Leider ist James nicht da – also wird Susan sich in dieser Mittagspause ein eigenes kleines Vergnügen leisten. Sie hat sich mit der sorgfältigen Wahl ihrer Kleidung schon am Morgen darauf vorbereitet. Ihr Aufzug wirkt selbst hier seltsam, obwohl strenge Kleidung bei den Zeugen Jehovas vorgeschrieben ist. Sie trägt einen langen Rock, eine langärmlige Bluse in Naturweiß und einen dunkelblauen Regenmantel, der bis über die Waden reicht. Nachdem sie den Checkpoint passiert hat, zieht sie das i-Tüpfelchen ihres Outfits aus der Tasche: eine grüne Baskenmütze, die ihre üppigen hellblonden Haare – ein Erbe ihrer estnischen Mutter, auf das sie sehr stolz ist – fast vollständig verdeckt.
    In der U-Bahn steigert sich ihre Erregung. Sie malt sich aus, Agentin Barnes zu sein, die sich zu einer Unterwanderungsmission in Crown Heights aufmacht. Sie beobachtet die Mitreisenden. Schwarze, Juden, Polen, Chinesen. Ihr habt ja keine Ahnung, wer ich bin und welch gefahrvolles Leben ich führe, denkt sie. Keiner von euch weiß, was sich um euch herum abspielt. An der Kingston Avenue steigt sie aus und überlegt, was geschehen würde, wenn es, wie 1991, plötzlich einen Aufruhr gäbe. Sie stellt sich vor, wie sie von einer Gruppe junger Schwarzer umzingelt wird, die sie für die Frau oder Tochter eines Rabbiners halten. Bei diesem Gedanken kriecht eine Gänsehaut ihren Rücken hinunter. Das ist zwar nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl, und doch gefällt ihr genau das: Angst. Die Angst, die sie und ihren Bruder seit ihrem dritten Lebensjahr in jeder Sekunde ihres Lebens begleitet, seit ihr Vater ihnen erklärt hat, dass nur wenige Auserwählte gerettet werden und in Jesu himmlisches Königreich einziehen dürfen. Der große Rest teilt sich auf in diejenigen, die auferstehen und in Gottes Königreich auf Erden leben dürfen, und in diejenigen, deren Seele und Körper auf ewig zu Staub werden: die left behind . Immer schon haben diese beiden Worte Susan in eine namenlose Angst gestürzt. Um diese zu überwinden, hat sie ihr ganz persönliches Gegenmittel gefunden, nämlich reale, physische Gefahr und die besondere Angst, die damit einhergeht. Nur so fühlt sie sich wirklich lebendig. Und während sie ungeduldig darauf wartet, konkreten Gefahren zu begegnen, erfindet sie imaginäre, um die Zeit totzuschlagen.
    Nach fünf Minuten Fußweg steht sie vor dem Lokal Kingston Koscher-Pizza. Das vertraute Firmenschild stellt ein Holzfeuer mit merkwürdig blauen Flammen dar. Wie jedes Mal betrachtet sie vor dem Betreten das Foto des letzten Rebbe der Lubawitsch-Bewegung. Er heißt Menahem Mendel Schneerson. Susan drückt einen diskreten Kuss auf ihren Zeigefinger. Es ist ein

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