Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Ritual, das sie seit ihrem sechzehnten Geburtstag durchführt. An jenem Tag fühlte sie sich verloren ohne James, der zwei Tage zuvor zu seiner ersten Mission außerhalb der Stadt aufgebrochen war. Ziellos war sie damals durch Brooklyn geschlendert, und Crown Heights hatte wohltuend beruhigend auf sie gewirkt. Die Männer mit den Hüten und die streng gekleideten Frauen hatten ihre Angst erträglicher gemacht. Und dann hatte sie plötzlich das Bild von Schneerson entdeckt. Es war wie eine Offenbarung. Er war der Vater, Großvater und die Mutter, die sie so gern gehabt hätte. Unendliche Milde und alle Güte der Welt lagen in seinem Blick. Unwillkürlich hatte sie einen Kuss auf das Gelenk zwischen dem ersten und dem zweiten Glied ihres Zeigefingers gehaucht, das Lokal betreten, eine Pizza bestellt und sich so wohl wie nie zuvor gefühlt. Heute ist sie zwölf Jahre älter, aber die ärmliche Pizzeria ist immer noch der einzige Ort in New York, an dem sie Frieden findet. Dabei trennen sie nur zehn Minuten Fußweg und eine Viertelstunde Fahrt mit der U-Bahn von dem in sich geschlossenen Universum, in dem Susan aufgewachsen ist. Fünfundzwanzig Minuten in eine andere Welt, die den unschätzbaren Vorteil besitzt, nicht die ihre zu sein. Mitten im Wahn der anderen träumt Susan davon, ihrem Schicksal zu entfliehen, und sie ist überzeugt, dass heute ein entscheidendes Ereignis stattfindet. Vor allem, wenn der, den sie sucht, heute da ist und auf seinem Stammplatz sitzt. Etwas Besseres wagt sie kaum zu hoffen.
Sie entdeckt ihn sofort. Er sieht aus wie ein verweichlichter Quarterback. Wie die meisten männlichen Gäste trägt er Filzhut, Schläfenlocken und Zizijot. Seine Frisur ist skurril; sie erinnert eher an Dreadlocks als an Sidelocks. Unter seinem weißen, durchscheinenden Hemd trägt er ein T-Shirt, auf dem man das grün-gelb-rote Porträt Bob Marleys erahnen kann. Er sitzt am hintersten Tisch und stochert mit leerem Blick in seinem Tiramisu, genau wie vor zwei Wochen, als sie ihn hier zum ersten Mal gesehen hat. An diesem Tag hat Ariel, der Pizzabäcker mit seiner Kippa in den italienischen Landesfarben, ihr gleich mehr über diesen merkwürdigen Chassiden erzählt, der vor einigen Monaten ins Viertel gekommen ist: Er sei ein aschkenasischer Jude aus Kansas, der dunkle Geschäfte mit zwielichtigen sephardischen Juden mache und immer ein Rasta-Shirt unter dem vorschriftsmäßigen weißen Hemd trage. Ein wirklich seltsamer Typ. Susan kennt Ariel seit sechs Jahren, seit er bei Kingston Koscher-Pizza arbeitet. Er weiß, dass sie keine Jüdin ist, und schert sich nicht darum. Er amüsiert sich über ihren chassidischen Aufzug und genießt es, dass sie sich die Zeit nimmt, am Tresen zu bleiben und mit ihm zu schwatzen, während er ihre Pizza backt. Es ist immer dieselbe: vegetarischer Schinkenersatz, grüne Paprika, Tomaten und Basilikum.
Diskret lenkt Susan das Gespräch wieder auf den chassidischen Rastajünger. Der Pizzabäcker, der sich über das Interesse der hübschen Zeugin Jehovas an diesem ebenso seltsamen wie stämmigen Juden amüsiert, erzählt ihr, was er über seinen Stammgast vom hintersten Tisch weiß. Das ist nicht wirklich viel. Der Mann heißt Dov und hat in Harvard studiert. Was ihn allerdings bewogen hat, sich mitten im tiefsten Judenviertel in Crown Heights niederzulassen, darüber schweigt er sich aus. Als der Platz gegenüber dem jungen Mann frei wird, fordert Ariel Susan grinsend auf, sich dorthin zu setzen, er wird ihr die Pizza bringen, sobald sie fertig ist. Susan nickt dankbar und durchquert den Gastraum.
Dov blickt auf und starrt sie verblüfft an. Als sie näher kommt, senkt er die Augen und stochert weiter in seinem Nachtisch herum. Ohne das geringste Zögern setzt sich Susan auf den Platz, der nach dem eiligen Aufbruch einer etwa fünfzigjährigen Dame mit langem Jerseyrock und mahagonifarbener Perücke freigeworden ist, die mit Sicherheit im Mikwe nebenan arbeitet. Der junge Mann ist sich ihrer Gegenwart sehr bewusst, spielt aber weiter mit seinem Löffel, ohne sie anzusehen. Sie nutzt die Gelegenheit und beobachtet ihn.
Susan hat ein ausgesprochenes Talent, Menschen zum Reden zu bringen. Manche Leute vertrauen ihr Dinge an, die sie nie jemand anderem sagen würden. Sie versteht es, Gedanken und Taten zu lenken. Geerbt hat sie dieses Talent von ihrem Vater Abigail Barnes, den Susan aus tiefstem Herzen hasst. Sie akzeptiert ihre Zuhörer- und Überzeugungsfähigkeiten nur, weil sie
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