Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
verschleiert und voller süßer Versprechen klang. »DIE NACHT ist schrecklicher, als du dir vorstellen kannst. Sie bedeutet das Leben ohne Gott. Verstehst du, Gott hat sich von dir abgewendet. Er blickt auf die andere Seite und schenkt anderen sein Licht, seine Liebe und das Leben. La luce, l’amore solo per gli altri! Natürlich akzeptiere ich, dass er auch die anderen liebt. Aber nicht, dass er mich fallen lässt! Nicht, dass er mir die Wärme seines Blickes entzieht! Senza Dio non posso vivere! Aber warum erzähle ich dir das bloß alles? Du mit deinem Computerschach … Non capisci niente di Dio! Non capisci niente neanche dell’amore! Johannes vom Kreuz ist der größte Mystiker der Katholiken. Er war Jude, genau wie Christus. Er hat viel durchmachen müssen und wurde sogar gefoltert. Alles wegen seines Gottes. Aber sein größtes Leid war es, DIE NACHT kennenzulernen. La notte . Gott zu verlieren. Einsam und unwürdig zu sein. Gott hatte sich von ihm abgewandt, um andere Herzen zu erwärmen.« Catarina hatte zu weinen begonnen, und Ahmed hatte ihre Tränen getrunken, sich an ihnen gelabt und sie getröstet. Genau das sah er als seine persönliche Mystik: die Tränen von Catarina sessuale zu trinken. Und es trug ihn mindestens ebenso hoch hinauf, wie andere durch Gebete getragen wurden.
Tränen. Plötzlich betritt Cousin Mohamed die Bühne: »Es gibt nichts Schöneres als die Tränen, die dem betenden Moslem über die Wangen rinnen. Wer diese Gnade nicht kennt, kennt auch das Glück nicht. Aber keine Sorge, ich bete dafür, dass auch du eines Tages zu dieser Erkenntnis gelangst.« Eine Minute nach sechs. Die Atmosphäre des Traums hat sich verändert. Ahmed ärgert sich. Die Geliebte aus Venedig war so schön, und das plötzliche Auftauchen des Cousins nervt ihn. Sein Unterbewusstsein räumt den Mangel an Übereinstimmung ein und zieht Rachel Kupfersteins Gesicht aus dem Zylinder. Langsam beugt sich die junge Frau über Ahmed, drückt ihre Lippen auf seinen Mund und fährt mit der Zunge zwischen seine Zähne. Und es trägt ihn hinauf. Wie lange ist es her, dass er eine Frau geliebt hat? So lange, dass er nicht einmal mehr davon träumt! Rachel zieht ihn aus, zunächst langsam, dann immer eiliger – getrieben von dem starken Bedürfnis, ihn in sich zu empfangen. Mit einer einzigen Bewegung öffnet er den Reißverschluss ihrer Jeans, lässt sie hinuntergleiten, richtet sich auf, um sie ihr auszuziehen, und freut sich auf das Gefühl ihrer Feuchtigkeit. Dann kommt das Beste: Er ist hart, sie schmelzend weich. Sie begegnen sich. Das Beste … Mit einem Mal verschwindet Rachel. Der Traum ist vorbei. Ahmed wacht auf. Doch er fühlt sich keineswegs frustriert, sondern sehr lebendig. Und darüber freut er sich. Er freut sich auch, dass er in seinem Traum keine Befriedigung erfahren hat. Der Gedanke, sich für sie aufzubewahren, gefällt ihm. Er kostet das Verlangen aus, er genießt das Warten. Er blickt dem Unbekannten erwartungsvoll entgegen.
Die LCD-Anzeige seines Weckers zeigt drei Minuten nach sechs. Ahmed steht auf, setzt Wasser auf und stellt den braunen Kaffeefilter auf die Glaskanne. Er befeuchtet das Filterpapier und schüttet den Kaffee direkt aus der Packung hinein. Vier ruckende Handbewegungen. Okay, noch eine fünfte. Das Wasser kocht. Ahmed folgt einem Ritual. Wenn er das kochende Wasser auf das Kaffeepulver gießt, bleibt viel Kaffeesatz am Rand hängen. Beim zweiten Mal lässt er einen feinen Wasserstrahl am Rand entlanglaufen, um das Pulver in die Mitte des weißen Filterpapiers zu spülen, wo sich der Satz in einer kompakten, feuchten Masse sammelt. Wie Sand, aus dem man Strandschlösser baut. Dabei fällt ihm ein, dass er sich auf der Toilette ganz ähnlich verhält. Nachdem er das große Geschäft erledigt hat, pinkelt er auf die Spuren, die in der Schüssel zurückgeblieben sind. Am liebsten würde er die Schüssel auf diese Weise ganz säubern, doch er schafft es nur selten und muss für ein optimales Ergebnis oft die Bürste zu Hilfe nehmen. Wenn er auf die eigene Scheiße pinkelt, um sie zu entfernen, empfindet er das gleiche Vergnügen wie beim Schütten des Wassers auf den Kaffeesatz, der den oberen Teil des Filters befleckt. Der Rückschluss daraus stimmt ihn nachdenklich: Er wünscht sich saubere Verhältnisse.
Er schenkt sich einen Kaffee ein und bestreicht ein paar Kräcker mit Butter. Um halb sieben hat er fertig gefrühstückt, das Geschirr gespült und geduscht. Er trägt die
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