Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
insgeheim hofft, sie eines Tages gegen ihn einsetzen zu können – und gegen alles, woran er glaubt. An diesem Tag ist es genau ein Jahr her, dass James und ihr überhaupt bewusst geworden ist, dass sie in diese Richtung denken: Dieser Mann hat ihnen ihre Substanz genommen, er hat sie um ihre Mutter und um ihre Kindheit gebracht. Sie haben eingesehen, dass sie erst wieder einigermaßen zufrieden sein werden, wenn sie es ihm mit dem Verlust aller Dinge, die ihm wichtig sind, heimgezahlt haben. Sie hatten sich heimlich in einem georgischen Restaurant in Brighton Beach getroffen, und als die befrackten Kellner Happy Birthday zunächst in ihrer Sprache und dann auf Englisch gesungen hatten, hatte Susan ihre Tränen nicht zurückhalten können. James hatte sie in den Arm genommen, und sie hatten sich geschworen, eine Möglichkeit zu finden, sich zu rächen und endlich glücklich zu sein.
Eine Viertelstunde später kennt Susan sogar mehr als den Nachnamen ihres Tischnachbarn. Er heißt Dov Jakubowitz und wurde als Sohn einer weltlichen Judenfamilie in Wichita in Kansas geboren. Als hochbegabter Junge fiel ihm die Aufnahme in Harvard nicht schwer. Irgendwann erfuhr er ziemlich unerwartet seine teschuwa – seine Umkehr zum Judentum – und ließ sich folgerichtig in Crown Heights nieder. Sein Bericht klingt glatt – ein bisschen zu glatt –, und er erzählt mit einem halb abwesenden, halb amüsierten Ton aus seinem Leben. So als sei er sich nicht ganz sicher, ob sie es wirklich wissen will. Während Susan ihre Pizza isst, schlägt sie ihm vor, einen Spaziergang durch den Central Park zu machen, falls er noch Zeit hat. Das Wetter ist schön, und den Park auf der anderen Flussseite kann man direkt mit der Linie 3 erreichen, wenn man bis Columbus Circle fährt. Es ist der unverfänglichste Vorschlag, den eine junge Frau einem jungen Mann machen kann. Über die Folgen denkt Susan nicht nach. Sie fühlt sich nicht von ihm angezogen, sie ist nur neugierig auf das Geheimnis, das sie hinter seinem Äußeren wittert. Und dazu muss er die jüdische Enklave verlassen. Der junge Mann findet die vorgeblich gläubige Jüdin, die der Himmel ihm offenbar gegen seine Langeweile geschickt hat, witzig und interessant. An diesem Tag hat er zu nichts wirklich Lust – vor allem nicht dazu, in die Talmudschule zu gehen. Was also spricht gegen einen Spaziergang im Central Park?
Susan achtet penibel auf ihren Ruf. Während ihres Gesprächs behält Ariel sie im Auge. Sicher gut gemeint, aber durchaus wachsam. Auf keinen Fall kann sie das Lokal zusammen mit Dov verlassen. Geübt in ihrer Rolle als Agentin Barnes, die alle Regeln der Geheimhaltung kennt, fordert sie Dov auf, sich noch einen Kaffee zu bestellen, sobald sie gegangen ist, ihn in aller Ruhe zu trinken, zu bezahlen und sie anschließend im hinteren Teil der U-Bahn-Station Nostrand Avenue zu treffen. Dreiundzwanzig Minuten später sitzen sie einander gegenüber. In der U-Bahn ist es laut, zu laut zum Reden, und das ist gut so. Eine Zeit des Übergangs. Susan weiß sicher, dass sie nicht mit ihm schlafen will. Sie hat noch keine Ahnung, was sie mit ihm anfangen soll, aber ihr ist klar, dass er eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen wird. Die Männer, mit denen sie schläft, stößt sie spätestens nach einem Nachmittag weg. Es ist zwar merkwürdig, dass sie sich in dem Wust, in dem sie aufgewachsen ist und aller zählebigen Spinnereien, die sie längst hinter sich glaubte, zum Trotz, immer noch völlig irrational auf Vorzeichen und auf das Schicksal verlässt. Aber so ist es, und das ist tief in ihr verankert. Jedenfalls ist sie sich genau in diesem Augenblick vollkommen sicher, dass sich ihr Leben verändern wird. Das Zusammentreffen mit Dov ist der Wendepunkt, auf den sie so lange gehofft hat und der nun in greifbarer Nähe liegt. Jetzt muss sie ihre Karten nur noch richtig ausspielen.
16
Es ist fünf Uhr. Ahmed schläft. Sechs Uhr. Ahmed schläft noch immer. Vor seiner asexuellen Phase hat er christliche Mystiker wie Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila gelesen. Die hatte ihm eine Freundin empfohlen, eine sinnliche Mystikerin, die gerne liebte, betete und weinte. Catarina sessuale hat Ahmed sie getauft, er hat sich mit ihr ganz besonders wohlgefühlt. Und jetzt, kurz vor dem Aufwachen, kehrt Catarina zu ihm zurück. Sie hat ihm beigebracht, was DIE NACHT für Mystiker bedeutet. Lebhaft erinnert sich Ahmed an ihren erregenden italienischen Akzent, der immer ein wenig
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