Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
…«
»Ich male nicht und mache auch sonst nichts. Die Frauen waren immer schnell wieder weg, weil ich passiv war und nichts getan habe. Ich habe immer nur abgewartet. Im Grunde war ich ganz allein. Ich habe mich nur mit mir selbst beschäftigt und bin allmählich zum Einzelgänger geworden. Stellen Sie sich vor, heute Morgen ist mir aufgefallen, dass ich gern saubere Verhältnisse habe, und zwar sowohl auf der Toilette als auch im Kaffeefilter.«
Ahmed bricht erneut ab. Der Arzt schweigt. Seine Atmung verlangsamt sich so sehr, dass Ahmed den Eindruck hat, er sei eingeschlafen. Also beginnt er zu reden und sagt das Erstbeste, das ihm in den Sinn kommt. Nur um ihn aufzuwecken. Und um nicht selbst einzuschlafen. Einschlafen beim Psychiater!
»Abgesehen davon geistert mir ein Mörder im Kopf herum. Noch habe ich Angst, ihm ins Gesicht zu sehen, daher halte ich riesigen Abstand zwischen der langen Zeit der Analyse und der Dringlichkeit dessen, was mir passiert.«
»Ja, aber gerade diese Dringlichkeit … Bewirkt sie nicht etwas? Ich denke doch. Und wenn es nur Ihre Rückkehr ist.«
»Richtig, meine Rückkehr. Meine Rückkehr zu Ihnen und meine Rückkehr ins Leben. Ich muss handeln und hinsehen, auf keinen Fall darf ich untätig bleiben. Es gibt eine Menge Dinge, die ich eigentlich müsste. Dieser Mord, den ich miterlebt habe – ich habe Angst, Ihnen davon zu erzählen, weil ich fürchte, ihn dann noch einmal vor mir sehen zu müssen. Als ob ich aus meiner Deckung komme, wenn ich darüber rede. Als ob ich angreifbar würde.«
»…«
»Der Mann ist ein Mörder, verstehen Sie? Ein Raubtier. Ein Menschenjäger. Jemand, dem es Spaß macht, zu morden und zu quälen.«
»Ja …«
»Wie die, die meinen Vater umgebracht haben.«
»Ja …«
»Ich muss ihnen ins Gesicht sehen. Sie nicht nur von der Seite betrachten. Das verzerrt das Bild. Ins Gesicht. Ich muss dem Bösen ins Gesicht sehen.«
»Ja …«
»Ich werde Ihnen jetzt das erzählen, worüber ich lange Zeit nicht reden konnte. Der Vorfall ist der eigentliche Grund dafür, dass ich hier bin. Und dass ich vorher in Maison-Blanche war. Dieser Mord, den ich beobachtet habe. Der Mord an der jungen Frau Emma.«
»Emma, richtig …«
»Ich werde es Ihnen erzählen, wie man eine Geschichte erzählt, die man irgendwann erlebt hat. Oder als wäre ich Zeuge eines Unfalls geworden. Verstehen Sie? Also … Ich war im Lager von Monsieur Meuble im Gewerbegebiet von Aulnay-sous-Bois. Mein Dienst begann um acht Uhr abends, nachdem die letzten Angestellten gegangen waren. Um neun machte ich mir eine tiefgefrorene Lasagne heiß. Eine halbe Stunde später schaltete ich den PC ein und spielte Go gegen die Maschine, die übrigens zweimal hintereinander gewann. Um elf, als ich gerade im Begriff war, die dritte Partie zu gewinnen, hörte ich auf der anderen Seite der Halle ein Geräusch. So etwas passierte öfter. Manchmal knirschte es hier und da, Möbel knarrten, Mäuse knabberten an Plastikplanen. Jedenfalls ging ich nachsehen, nur um ganz sicher zu sein. Die Zentrale informierte ich nicht. Auch mein Telefon nahm ich nicht mit. Als hätte ich gewusst, was mich erwartet, stahl ich mich äußerst vorsichtig durch die Regalreihen, machte nicht den geringsten Lärm und knipste auch meine Taschenlampe nicht an. Dazu muss ich sagen, dass ich das Lager wie meine Westentasche kannte. Die Geräusche wurden lauter. Sie kamen aus der Nähe eines Seiteneingangs. Schnell wurde mir klar, dass es sich sicher nicht um eine Maus handelte, weil jetzt eine Plastikplane sehr rhythmisch raschelte und keuchender Atem zu hören war. Ich schlich näher heran, wollte die beiden aber zum Ende kommen lassen und ehrlich gesagt auch ein bisschen zuschauen. Von einem Schemel aus konnte ich alles beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Ein Paar hatte Sex auf einem cremefarbenen Sofa, einem in Plastik gehüllten Ausstellungsstück. Die Frau war um die dreißig, hatte rötlich braunes Haar und grüne, mit Kajal betonte Augen. Ihr Mund war mit Klebeband verschlossen, und sie riss entsetzt die Augen auf. Die Stellung ihrer Arme ließ darauf schließen, dass sie hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Von dem Mann konnte ich nur den Nacken, seine breiten Schrankträgerschultern, blondierte Haare, ähnlich denen eines Heavy-Metal-Gitarristen, und riesige Hände sehen, die sich um den Hals der Frau schlossen. Plötzlich stieß er einen knurrenden Laut aus und erwürgte sie. Genau in diesem Moment sah sie mich an.
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