Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Jeans vom Vortag, ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und blaue Baumwollsocken. Er sitzt an die Wand gelehnt auf dem Binsenteppich und fühlt sich wohl. Die Sache mit dem Kaffee und den Exkrementen hat ihn innerlich gereinigt. Ihm ist ganz leicht zumute. Sein Geist geht auf Reisen. Doch dann kehren die Bilder und die Gesichter zurück. Moktar. Sam. Der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte ist der Frisör. Ein anderes Gesicht stellt sich am Rande seines Bewusstseins tot. Es befindet sich noch immer an dem Ort, an den er es im Traum nach dem Auffinden von Lauras Leiche gedrängt hat. Jetzt aber erkennt er, dass es sich fast unmerklich bewegt, wie eine sehr langsame Molluske, ein Schalentier oder ein Seestern, der sich auf einen Lichtpunkt zwischen zwei Felsen in sehr ruhigem Wasser zu bewegt. Man darf ihn nicht erschrecken, sonst verschwindet er auf Nimmerwiedersehen.
Ahmeds Gedanken kehren zu Moktar und der Band75-Zorro-19 zurück. Er erinnert sich an den Beginn ihrer Karriere im Viertel. Mourad, Alpha, Moktar und Ruben. Plötzlich fällt ihm ein, dass Ruben Sams Neffe ist. Da also liegt die Verbindung zwischen Moktar und dem Frisör. Die Band hat sich wieder zusammengefunden, und es hat mit Lauras Tod zu tun. Er erinnert sich an die Erzählungen der Flugbegleiterin, denen er kaum je Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es ging um Rubens jüngere Schwester. Sie stand unter einem enormen familiären Druck. Laura hatte ihr gut zugeredet, sie solle Widerstand leisten, und dann war sie plötzlich verschwunden. Niemand wusste, wohin. Obwohl Laura sich ununterbrochen mit Rébeccas Schicksal beschäftigt hatte, schien das Verschwinden der Freundin sie kaum zu berühren, sie hatte schließlich sogar aufgehört, von ihr zu sprechen. Wie kann Ahmed herausfinden, was geschehen ist? Soll er ihre Freundinnen fragen, deren Namen er vergessen hat? Er blickt auf die Uhr. Schon sieben. Er muss zur Metro, wenn er rechtzeitig bei Dr. Germain sein will.
Fünfunddreißig Minuten später sitzt er im Wartezimmer. Er ist gerannt, um rechtzeitig anzukommen. Rennen, um pünktlich zu sein. Das war in einem anderen Leben. Metro, Eile, Pünktlichkeit. Jetzt ist es Germain, der ihn warten lässt. Ein winziger, wütender Stich. Bis zu dem Augenblick, als er feststellt, dass er ziemlich außer Atem ist und die kleine Pause ihm guttut. Das Warten gehört zum Prozess, zur berühmten »Arbeit«. Nachdem der kleine Ärger verflogen ist, lauscht Ahmed den Geräuschen. Das Rohrleitungssystem. Wasser, das in die Hähne hinaufgepumpt wird, und Wasser, das durch die Abflüsse nach unten läuft. Das Summen der Lüftungsanlage, das unpässliche Geräusche überdeckt, und der köstliche Geruch von Kaffee aus einer elektrischen Maschine. Germain hat verschlafen und benötigt dringend eine Tasse Kaffee, ehe er sich seinem ersten Patienten widmet, der in gleich zwei Morde verwickelt ist. Ahmed lächelt, streckt die Beine aus und lässt sich fallen. Dreißig Sekunden später wird die Tür geöffnet. Er steht auf, schüttelt die dargebotene Hand, betritt das Behandlungszimmer und legt sich auf die Couch. Das Papiervlies auf dem Kopfkissen duftet nach Eukalyptus. Ahmed stellt sich vor, wie sich sein Arzt im Glanz der Aura seines Fachgebiets, seiner Kenntnis sämtlicher Schriften Freuds und aller neunzehn Seminarbücher Lacans, über die Couch beugt, das Kissen aufschüttelt, um den Abdruck des vorigen Patienten zu entfernen, und das Papier wechselt. Dieses Einmalvlies hat etwas von einer Peepshow. Etwas Intimes, fast schon Sexuelles. Genau wie die Reproduktion des Gemäldes von Dalí über der Couch, das Gala mit entblößter Brust darstellt. Als Ahmed zum ersten Mal Dr. Germain gegenübersaß – erst bei der fünften Sitzung legte er sich auf die Couch –, fiel ihm die Kraft des Gemäldes auf. Er hatte sich nach dem Maler erkundigt und anschließend nachgeforscht. Dabei hatte er entdeckt, dass Dalí noch Jungfrau gewesen war, als er Gala kennenlernte. Schweigend betrachtet er das Bild. Schließlich beginnt Germain:
»Ja, also …«
»In diesem Gemälde ist wirklich Allmacht abgebildet. Gala, die reife Frau. Die Erweckende. Die Wissende.«
»Die mächtige Frau?«
»Ja, die mächtige Frau. Was kann ein Mann ihr gegenüber schon ausrichten?«
»Ja, und was macht er?«
»Er betrachtet sie. Er malt sie. Er handelt und macht etwas daraus. Sie erwartet es und sieht ihm zu bei seinem Tun. Eigentlich gibt es immer etwas zu tun.«
Schweigen.
»Etwas zu tun? Ja
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