Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Hausmeisterin hat Rachel erfahren, dass Ahmed einen Zweitschlüssel besitzt. Beim derzeitigen Stand der Ermittlungen macht ihn das zum bisher einzigen potenziellen Verdächtigen. Aber die junge Frau hütet sich vor voreiligen Schlüssen. Sorgfältig widmet sie sich jedem Detail in Ahmeds Gesicht: der leicht platten Nase, den kleinen Ohren unter der Afrofrisur, dem deutlich vorstehenden Adamsapfel, den vollen Lippen, dem sanften und intensiven Blick, in dem eine uralte Trauer zu liegen scheint. Seine Augen sind wie offene Fenster, durch die sie sofort erkennt, dass er es nicht gewesen sein kann.
Trotzdem wird sie das Spiel weiterspielen, der Schein muss schließlich gewahrt werden. Allerdings nicht hier auf dem Treppenabsatz, während das Flurlicht ständig ausgeht. Hier genügt es, zu schweigen. Ein paar Sekunden lang. Die zur Ewigkeit werden. Welche sich plötzlich auftut.
Jean fühlt sich wie ein Psychoanalytiker während einer Sitzung. Er spürt die stumme Verbindung, die zwischen Rachel und Ahmed entstanden ist, und zieht sich instinktiv zurück. Auf seinen gewohnten Posten. Lieutenant Hamelot sieht lieber zu, nimmt sich Zeit und lässt andere handeln. »Du bist ein Zuschauer des Daseins«, hat Léna ihm einmal entgegengeschleudert. Er hat nie wirklich verstanden, warum das ein Problem sein soll, doch im Lauf der Jahre ist ihm klar geworden, dass das den meisten Frauen nicht gefällt. Rachel ist es egal. Zumindest bei der Arbeit. Immerhin ist es mal was anderes als die übliche Schublade »Guter Bulle, schlechter Bulle«. Kupferstein und Hamelot entsprechen eher der Kategorie »die Anwesende und der Abwesende«. Rachel sucht den Kontakt, er bleibt in der Deckung. Doch in diesem Augenblick geschieht etwas Neues, das ihn fasziniert.
Die weitere Ermittlung wird in diesem Augenblick entschieden. Achtzig Sekunden, die ihnen wie Stunden vorkommen. Erlebt von drei Menschen, auf einem anonymen Treppenabsatz durch ein unsägliches Verbrechen vereint.
Aber das Schweigen kann nicht ewig andauern. Rachel fährt fort:
»Wir ermitteln in einem Mordfall. Es geht um die junge Frau, die über Ihnen wohnt.«
Sie bricht abrupt ab. Ahmed muss sofort reagieren und entschließt sich, das Einfachste zu tun. Er schauspielert nicht und tut nicht so, als ob, nein, er erfährt erst jetzt und in diesem Augenblick von Lauras Tod. Im Übrigen entspricht das sogar fast der Wahrheit. Er hat zwar die Leiche gesehen, aber er hat den Gefühlen, die ihn zu überwältigen drohten, nicht nachgegeben. Jetzt kann er vor Kupferstein und Hamelot die Nachricht vom Tod seiner Nachbarin sozusagen live nachvollziehen. Er schweigt. Er versteht nicht. Er will nicht verstehen. Vier Sekunden.
»Was soll das heißen – Mord? Die junge Frau über mir?«
»Können wir vielleicht drinnen weiterreden? Der Flur scheint mir nicht der geeignete Ort dafür zu sein.«
Dieses Mal sind es Ahmeds braune Augen, die sich in den türkisblauen verhaken. Unvermittelt fühlt er sich fünfzehn Jahre zurückversetzt. In die Mädchentoilette seines Gymnasiums. Esthers große Augen. Es war die reinste und kürzeste Liebe seines Lebens und der Tag des ersten ihrer sieben Küsse. Lieutenant Kupferstein hält seinem Blick natürlich stand. Ihre Augen sind ein Ozean, in dem Ahmed sich nicht verlieren will, aus dem er jedoch nur langsam auftaucht.
Das Salz, das Rachels Blick auf seiner Haut zurückgelassen hat, wird er erst später kosten. Er stößt sich von der Wand ab, geht zwei Schritte auf die Tür zu und greift nach seinem Schlüssel.
»Sie gestatten?«
Jean tritt zur Seite. Ahmed schließt auf und betritt gefolgt von den beiden Polizisten seine Wohnung.
»Entschuldigen Sie bitte die Unordnung«, sagt er mit einer ausladenden Geste.
Der Anblick bringt die Beamten so aus der Fassung, dass sie nicht antworten. Die Wohnung ist nicht wirklich unordentlich. Es geht eher um das bedrückende Gefühl von Leere und Überfüllung.
Leere. Das Zimmer ist spartanisch eingerichtet. Ein Brett ruht auf zwei Böcken aus weißem Holz, das ist der Tisch. Ein Futon auf dem grauen Linoleumboden. Das naturfarbene Bettzeug kommt Jean bekannt vor, er hätte sich an jenem schrecklichen Nachmittag bei Ikea beinahe das gleiche gekauft, für neun Euro neunundneunzig. Ein roter Rollenkoffer, von dem Rachel annimmt, dass er Ahmeds gesamte, auf ein Minimum reduzierte Garderobe enthält und gleichzeitig als Nachttisch dient, denn auf ihm liegen drei Bücher neben einer kleinen, grünen Metalllampe.
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