Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
den Wahnsinn rächen will, der sie dieser Welt entfremdet hat. Dass sie ihm nur seine neue Freiheit nicht gönnt. Er gäbe viel darum! Aber in seinem Kopf säuselt eine kleine Stimme: »Sie hat recht, Vincenzo. Sie hat recht. Sie weiß es – verstehst du? Sie weiß es.« Seine Augen füllen sich mit Tränen. Er wird von Schluchzern geschüttelt. Seit dreißig Jahren verdient er seinen Lebensunterhalt damit, auf unterschwellige Weise Angst in die naiven Herzen der Gläubigen zu säen, aus denen sich seine Herde zusammensetzt; die Angst vor dem Ende der Welt, vor Armageddon und der Apokalypse. Und jetzt sucht diese abgrundtiefe Angst ihn selbst heim. Er fühlt sich in die Leere unendlicher Weiten hinauskatapultiert. Einsam und nackt ins Zentrum des Nichts.
Eine vordergründigere, primitive Furcht hingegen ergibt sich aus einer konkreten Unruhe wegen des Plans, der gerade umgesetzt wird. Die Leute, die vor einer Stunde mit einer Ladung aufbrechen sollten, haben sich bisher nicht gemeldet. Alle paar Sekunden wirft Vincenzo einen Blick auf seine Uhr. Draußen strahlt eine ironisch lachende Sonne. Das Handy auf dem Glastisch vibriert. Die Nummer ist unterdrückt.
»Ja?«
»Bist du am Platz?«
Vincenzo erkennt die Stimme des Mannes, den er nur ein einziges Mal gesehen hat. Ein schlechtes Omen.
»Was ist los? Ich warte.«
»Immer mit der Ruhe. Bleib, wo du bist. In zwei Stunden ist alles wieder in Ordnung.«
»In zwei Stunden? Aber ich habe zu tun. Ich kann meine Zeit nicht mit Warten vergeuden. So war es nicht geplant.«
»Und doch wird es so laufen. Du weißt es, nicht wahr? Du weißt, dass du nichts kontrollieren kannst. Und deshalb bist du brav und wartest ganz ruhig. Ist doch gar nicht so kompliziert, oder?«
»Am Samstag bin ich da, und dann reden wir. Samstag.«
»Am Samstag? Sehr gut. Am Samstag reden wir.«
Am anderen Ende wird aufgelegt. Vincenzo lehnt sich zurück und seufzt. Er sieht jetzt klar. Es ist sein Schicksal, und er hat keine andere Wahl, als sich ihm zu unterwerfen. Im Grunde war er nie etwas anderes als ein Werkzeug, ein kleines Rädchen. Er weiß, dass er besser den paradoxerweise ebenso verrückten wie vernünftigen Ambitionen Mathildes gefolgt wäre, doch stattdessen hat er sich einer sehr viel anspruchsvolleren und gefährlicheren Geliebten unterworfen. Mathilde hat das trotz ihrer Umnachtung erkannt. Und natürlich weiß sie, was geschehen wird. Was kann er schon tun, um zu ändern, was geschrieben steht?
Er greift nach dem Bahnticket, das neben dem Telefon liegt.
Abfahrt in Niort 11.37 Uhr
Ankunft Paris-Montparnasse 14.00 Uhr
Wie soll man ändern, was geschrieben steht?
25
Seit zwanzig Minuten sitzt Ahmed in Sams Frisiersalon und wartet darauf, an die Reihe zu kommen. Er steckt seine Nase in eine Autozeitschrift und bemüht sich, dem Gespräch des Frisörs mit Albert zu folgen. Albert ist ein alter ägyptischer Jude, gekleidet in einen makellosen, cremefarbenen Anzug. Er erzählt seit dreißig Jahren immer die gleiche Geschichte: Er war Schneider in Zamalek, einem von Ausländern und der nachosmanischen, König Faruk nachtrauernden Bourgeoisie sehr geschätzten Stadtviertel von Kairo. Er passte seinen Stil den Bedürfnissen an, und so war es ihm gelungen, sich einen Kundenstamm aus Nasser-Beamten zu schaffen, denen er zwar elegante, aber dennoch den strengen, revolutionären Vorschriften angemessene Kleidung schneiderte. Vor der mangelhaften Zahlungsmoral seiner oft nicht solventen Stammkundschaft verschloss er die Augen und hielt sich an den reichen westlichen Diplomaten schadlos. Dafür hoffte er natürlich – ohne dass er es je aussprach – auf Protektion im Fall des Falles. Eine solche gegenseitige Rücksichtnahme hielt Albert für völlig selbstverständlich. Doch dann kam das Jahr 1967. Der Fall des Falles trat ein, erwies sich jedoch als nicht verhandelbar. Das einzige Privileg, das man Albert zu Beginn des Sechs-Tage-Krieges zugestand, war, dass man ihn einige Stunden vor allen anderen über die sofortige Ausweisung aller ausländischen Juden informierte. Was ein Pleonasmus war, denn so gut wie alle ägyptischen Juden besaßen die Staatsangehörigkeit eines europäischen Landes, da in der Zeit des Osmanischen Reiches die nicht muslimische Minderheit von christlichen Staaten wie Frankreich, England oder Russland »beschützt« wurde. (Für Albert erwies es sich als großes Glück, dass Russland nur die Orthodoxen schützte.) Der jüdische Schneider bekam eine halbe Stunde
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