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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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wach wurde, saß Mathilde kerzengerade in ihrem dunkelroten Viskosenachthemd auf dem Bett. Als er ihr linkisch zu erklären versuchte, dass Laura zwar tot, aber noch nicht begraben sei, versenkte Mathilde den Blick aus ihren Raubvogelaugen so lange in seinem, bis er ein Brennen im Schädel verspürte. Ihr Gesicht neigte sich langsam auf ihn zu. Als sie nur noch drei Zentimeter von ihm entfernt war, sagte sie ganz langsam:
    KLEINE – SCHLAMPE – TOT – UND – BEGRABEN
    Hass. Knoblauch. Galle. Als sei sie nicht menschlich. In diesem Moment begriff Vincenzo, dass die Angst vor dieser Frau sein Schicksal bestimmt hatte. Ohne sie hätte er sein in der Gewerbeschule von La Rochelle erworbenes Diplom nutzen können, ohne sie wäre er heute vielleicht Chefbuchhalter oder gar Verwaltungsdirektor bei einer großen Versicherung. Doch anstatt diesen vorgezeichneten Berufsweg zu beschreiten, war er zum Bewohner eines Paralleluniversums geworden, wo seine eigenen Gesetze herrschten. Und das, ohne Frankreich je verlassen zu haben – mit Ausnahme der regelmäßigen Lehrgänge in Brooklyn. Natürlich hatte er viele Vorteile genossen, vor allem die Ausübung einer geradezu ungeheuerlichen Macht über die anderen Gefangenen dieser seltsamen Welt, in die Mathilde ihn gleich beim zweiten Rendezvous hatte hineinstolpern lassen. Das Treffen endete nicht etwa bei ihm zu Hause (vorgesehen hatte er die italienische Variante mit Asti Spumante und einem malvenfarbigen Bettüberwurf aus Satin), wie er naiv gehofft hatte, sondern in einem Königreichssaal. Seit diesem Abend hat er die Karriereleiter Schritt für Schritt erklommen und ist heute die Nummer eins der Gemeinschaft in der Region Poitou-Charente. Die Gläubigen müssen sich seinem Diktat fügen. Er befindet über Campingurlaub, die Haltung von Haustieren, Einkäufe bei Auchan und die Stellung beim Sex. Ihm entgeht nicht die winzigste Kleinigkeit. Trotzdem beugt sich dieser mächtige Mann allen Forderungen seiner Frau. Der Frau, die ihm jetzt ihren schlechten Atem und ihren Wahnsinn ins Gesicht spuckt.
    Es ist halb zwölf. Vincenzo Vignola, Chef des Ältestenrats, traut sich nicht, sein Haus zu verlassen. Er weiß genau, dass Mathilde trotz ihres Wahns auch kleinste Gesten wahrnimmt. Wie ein wildes Tier wartet sie darauf, ihm an die Kehle zu springen, und zwar genau in dem Moment, in dem er versucht, einen Krankenwagen zu rufen. Vincenzo weiß, dass sie zu allem entschlossen ist, um nicht in die Klinik zurückkehren zu müssen. Je natürlicher er sich zu geben versucht, desto falscher wirkt sein Auftreten und desto wirrer wird der Geist seiner Frau. Ohne ihre Litanei zu unterbrechen, steht Mathilde auf, geht zur Toilette und schließt sich ein. Sofort greift Vincenzo nach dem Wagenschlüssel und seinem Handy und verlässt geräuschlos das Haus. Erst unterwegs wählt er die Notrufnummer. Innerhalb der nächsten zehn bis zwölf Minuten wird ein Wagen kommen. Avenue de la Rochelle, Rue du 24 Février, Rue de la Gare, Avenue Charles-de-Gaulle, Avenue Louis-Pasteur, Avenue de la Rochelle. Achtzehn Minuten später parkt er ein Stück von seinem Haus entfernt. Der Krankenwagen steht mit eingeschaltetem Blaulicht vor der Haustür. Zwei Sanitäter begleiten die Trage auf Rollen, auf der man Mathilde festgeschnallt hat. Einer der beiden hat einen tiefen, blutigen Kratzer auf der Wange. Als die Verrückte Vincenzo aus dem Wagen steigen sieht, stößt sie hervor: »Dämon, das Zeichen des Tieres … Schlamm, Unrat … Laura … Vom gleichen Blut … Verflucht …« Sie speichelt und verstummt. Am Himmel gibt eine Wolke die Sonne frei. Plötzlich ist da wieder dieses liebliche, wundervolle Lächeln. Voller Liebe. Das Lächeln des ersten Tages. Eine honigsüße Stimme dringt an sein Ohr. »Du wirst sterben, Vincenzo. Du weißt, dass du sterben wirst, nicht wahr? Du bist an der Reihe. So ist es nun einmal.« Die nächste dunkle Wolke verfinstert die Sonne und Mathildes strahlendes Gesicht. »Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben …«
    Vincenzo hat die Formalitäten erledigt, ist in sein Wohnzimmer zurückgekehrt und sieht sich mit der Ewigkeit konfrontiert. Er ist von Mathildes Worten umzingelt. »Du wirst sterben. Sterben … Du weißt, dass du sterben wirst, nicht wahr? Du weißt es. Du weißt es.« Nur allzu gern möchte er glauben, dass sie ihm nur das Leben vergällen und sich für

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