Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
ein unvergleichliches Vergnügen. So, ich glaube, jetzt ist alles gesagt. Schlucken wir sie?«
Andächtig spülen die drei Verschwörer ihre Pille mit einem Schluck Seven Up hinunter. Eine kleine Privatzeremonie, die ihnen umso magischer vorkommt, als sie sich in einer derart prosaischen Umgebung abspielt. Jeder sucht sich einen Platz, wo er auf die Himmelfahrt wartet. Dov setzt sich auf den Boden und lehnt sich an eine nicht ganz saubere Wand, die Barnes-Zwillinge nehmen auf kanariengelben Plastikstühlen Platz. Sie reden nur noch sporadisch, um den Kontakt aufrechtzuerhalten, doch einen inhaltlichen Sinn haben ihre Worte nicht mehr. Dann setzt die Wirkung ein. Für James ist es eine neue Erfahrung, Susan und Dov freuen sich, erneut den Zustand der Allmacht zu genießen. Es ist, als ob sich zwei Räume übereinanderlegen, ein unglaubliches Gefühl: James und Susan sind gleichzeitig die Barnes-Zwillinge in dieser und in einer anderen Welt. Der Kick geht weit über die Wirkung von Acid hinaus, denn im LSD-Rausch ist man zu high, um noch miteinander zu kommunizieren. Auch mit der Wirkung von Kokain, wenn man meint, der schlaueste Mensch der Welt zu sein, ist das Gefühl nicht zu vergleichen. Nein. Sie sind ganz und gar gegenwärtig in diesem abgetakelten Apartment. Sie wissen um die Flasche Seven Up und die Plastikbecher in ihren Händen. Und sie sind Götter. Nein, sie sind Gott. Die Droge ist monotheistisch. Christlich sogar, denn sie sind die Dreieinigkeit. Oder frühjüdisch. JHWH, Adonai und Elohim. Die Rollen teilen sie sich. Susan ist Elohim und der Heilige Geist, sie ist eine Frau, vielfältig und schelmisch – das passt. Als guter Chassid ist Dov JHWH, das Tetragramm, die Verkörperung des Geistes der Kabbala. Und er ist Jesus, denn trotz aller Einvernehmlichkeit will er diesen Platz keinesfalls einem Goi überlassen. James ist Adonai und Gottvater, was gut zu seinem No-life-Wesen passt.
Doppelte Sicht. Doppeltes Leben. Oben, unten und überall. Die perfekte Gemeinschaft. Einer beginnt einen Satz, den der Nächste vollendet, ohne dass einer auch nur den Mund öffnet. Schönheit, Fülle, Sättigung. Die Schöpfung teilt sich, Eden blüht in der Unschuld seiner Gärtner auf. Himmlische Langeweile.
GOTT ZU SEIN BEDEUTET VOR ALLEM, DIE NOTWENDIGKEIT DES BÖSEN ZU VERSTEHEN
Ohne Willensfreiheit ist die Ewigkeit monoton. Ohne das Böse gibt es weder Handlung noch Darstellung. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Mord, Begehrlichkeit, Ehebruch, Diebstahl. Gott hat den Menschen geschaffen, um sich nicht zu langweilen. Das begreifen sie alle drei. Alle sechs. Sie sind Gott. Sie sind allwissend. Sie haben von der Frucht vom Baum der Erkenntnis genascht. Sie sind Gott und allwissend. Sie sind Männer und Frau, und sie sind allwissend.
BÖSES ZU TUN BEDEUTET, GUTES ZU TUN
Es bedeutet, etwas zu tun, damit Gott sich nicht langweilt. Alles in Bewegung zu setzen, um die Ewigkeit ertragen zu können – diese unendliche Anzahl von Jahren, in denen nichts geschieht. Gar nichts. Ihr Plan ist göttlich. Sie wissen, dass Dov/JHWH/Jesus inspiriert war, als er die Formel der Droge träumte. The tree of the fucking knowledge . Und sie sehen sich. Menschlich, so menschlich. Mit ihrem Softdrink zu fünfundsiebzig Cent die Zwei-Liter-Flasche, ihren Lay-Chips und ihrer Sehnsucht nach dem kleinen, irdischen Glück. Schwimmbad, Dope, TFT-Monitor, Skateboards, verbotene DVDs, Breitband-Internetzugang – whatever . Und sie lachen.
Sie lachen.
24
Schon seit dem frühen Morgen wiederholt Mathilde Vignola immer die gleichen Worte. Wie einen morbiden, nur aus einem einzigen Satz bestehenden Abzählreim, den sie unermüdlich vor sich hin summt. »Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben … Kleine Schlampe, tot und begraben …« Mathilde ist groß und verwelkt, nur Haut und Knochen. Sie hätte schön sein können, doch ihre Züge sind in ihrem unendlichen Hass auf die Welt gefroren. Erschrocken und zugleich fasziniert von dem nun deutlich zutage tretenden Wahnsinn seiner Frau irrt Vincenzo durch das Haus. Von einem Zimmer ins nächste. Sobald er Mathilde über den Weg läuft, erblasst er. Er ist nicht in der Lage, seine Panik zu verbergen, obwohl er genau weiß, dass es sein Entsetzen ist, das ihre Schübe auslöst. Eine dumpfe Angst droht, ihn vollends zu überwältigen, so wie der Irrsinn Besitz von seiner Frau ergriffen hat. Als er um halb acht
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