Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
vergesse: Kannst du mir mal verraten, warum du nach dieser Lampe gefragt hast? Das hat ihn aus der Bahn geworfen, aber ich habe nicht verstanden, warum.«
»Ich habe auf der Heimfahrt gestern genau die gleiche gesehen. Bei einem perversen Trödler.«
Jean wirft ihr einen fragenden Blick zu.
»Okay, zum Mitschreiben: In unmittelbarer Nähe der Telefonzelle, von der aus man uns über den Mord informiert hat, ist ein Trödelladen, der einem Perversen gehört …«
Rachel erzählt ihrem Kollegen von ihrem Besuch in dem Laden und schließt: »Je mehr ich über ihn nachdenke, desto mehr erinnert er mich an einen Grapscher, auf den ich mal gegen Ende meiner Ausbildung getroffen bin. Er bewegt sich genau wie er, und er spricht auch so. Wie ein echter Perverser eben. Die Art-déco-Lampe stellt eine Verbindung zwischen ihm und Sam her. Ziemlich viele Zufälle, oder?«
»Finde ich auch. Witzigerweise wäre ich heute Morgen beinahe auch in diesem Laden gelandet.« Er unterbricht sich, und ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Ich habe mich nicht gerade sonderlich intelligent angestellt, ich habe nämlich vor der Telefonzelle geparkt und eine Zigarette geraucht. Eigentlich wollte ich nur die Umgebung und die Atmosphäre in mich aufnehmen. Ich glaube, in dem Laden waren zwei Leute. Ein ziemlich massiger, aber scheuer Typ, der sofort verschwand, als er mich sah. Der andere muss dein Trödler gewesen sein, er hat sich richtig Zeit genommen, mich zu beobachten. Nachdem wir jetzt beide dort waren, wird er vermutlich auf der Hut sein. Léna kennt sich durch ihren Job mit solchen Typen aus. Sie sagt, dass Perverse, ähnlich wie Schizophrene, ein sehr feines Gespür haben.«
»Na, wenn Léna das sagt!«
»Mann, ist ja gut! Auf jeden Fall haben wir bisher nichts gegen ihn in der Hand – weder gegen ihn noch gegen Sam. Höchstens eine nicht ganz wasserdichte Verbindung. Wir telefonieren nach deinem Zeugen Jehovas.«
»Exzeugen.«
»Stimmt. Ex …«
28
Aïssa Benamer ist allein. Er hat grüne Augen, trägt einen Legionärsschnitt und hat seinen muskulösen Körper in ein naturweißes Lacoste-Polohemd und beigefarbene Bundfaltenhosen von Gap gehüllt. Seine Füße stecken in himmelblauen Timberland-Bootsschuhen, und er hat seine Beine auf seinem fast leeren Schreibtisch ausgestreckt. Man könnte ihn für einen ehemaligen libanesischen Phalangisten-Milizionär halten, der in die Geschäftsführung eines Segelclubs gewechselt ist, oder für einen früheren israelischen Offizier, der jetzt für die Sicherheit eines Supermarkts in Plan-de-Campagne verantwortlich ist. Doch dem ist nicht so. Benamer ist der Sohn eines friedlichen, kabylischen Hotelier-Paares aus Saint-Chamond, der im Jahr 1983 zur Polizei ging. Es war das Jahr des Marschs für Gleichheit und gegen Rassismus, dem er zerstreut am Fernseher folgte und sich dabei kein bisschen betroffen fühlte, obwohl sein Bruder Lounès einer der Sprecher der Bewegung war. Zuvor hatte er an der Université Lyon-III sein juristisches Examen abgelegt und anschließend die Polizeischule besucht. Inzwischen steht er als Commissaire Adjoint Central im 18. Arrondissement kurz vor dem Gipfel seiner Karriere.
Seine Ziele jedoch liegen ganz woanders. Benamer verachtet die Menschen so sehr, dass ihn Ehrungen nicht interessieren. Das Gleiche gilt für Recht und Ordnung oder für das Gute. Ebenso für Geld. Nein, er lebt ausschließlich für die Macht – sein Lebensziel ist es, sie zu erhalten und sie in all ihren Formen auszuüben. Glücklicherweise hat ihn sein erster Job gleich mit Frédéric Enkell zusammengeführt, der in ihm sofort den Gefolgsmann erkannte, den er sich immer gewünscht hat. Obwohl Enkell bekennender Atheist ist, hat er etwas von einem Mystiker. Das Böse ist das Gesicht, das er dem Nichts verleiht. Er hatte den jungen Kabylen drei Monate lang beobachtet und dann dafür gesorgt, dass Benamer sich ein Fehlverhalten mit tödlichem Ausgang zuschulden kommen ließ – einzig mit dem Ziel, den jungen Beamten zu decken. Dieser erste Mord erfüllte seinen Zweck geradezu perfekt. Der vielversprechende Schüler schmeckte zum ersten Mal Blut und merkte, dass er nicht belangt wurde. Ungesühnte Verbrechen sind Enkells Spezialgebiet. Seit fünfundzwanzig Jahren – davon zwanzig Jahre mit Benamer an seiner Seite – deckt er Drogenhandel und Morde, ohne dass die Dienstaufsicht ihm je auf die Schliche gekommen ist. Sein Aufstieg in der Hierarchie war nicht aufzuhalten – seine
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