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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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bösartiger Angriff hat ihn völlig durcheinandergebracht, und so ist er zunächst durch den Parc de la Villette geirrt, ehe er sich entschloss, sich unter die wegen Vandalismus bis auf Weiteres außer Betrieb genommene Drachenrutsche zu flüchten und seinen Joint zu rauchen. Was er braucht, ist Zerstreuung. Er muss seine Gedanken befreien. Nun treibt er zehntausend Fuß hoch auf Thai Airways dahin und erfreut sich des Onboard-Programms, dessen einziger und allgegenwärtiger Held er ist. Kanal 1 – Liebeskomödien. Rachel und er laufen in Zeitlupe aufeinander zu. Er schenkt ihr einen Strauß violetter Rosen, sie bietet ihm ihre Lippen. Kanal 2 – Films noirs. In seinen Trenchcoat gehüllt schleicht er im kalten Novemberregen mit dem Finger am Abzug seiner Glock in den Tunnel unter der Porte des Lilas. Ein Porsche steht mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf dem Seitenstreifen und scheint auf ihn zu warten. Von einem unguten Gefühl befallen versteckt er sich in einer Mauernische. Eine Kugel pfeift ihm um die Ohren. Er entsichert die Waffe und schießt aufs Geratewohl. Kanal 3 – Snuff-Filme. Sam ist an seinen Frisörstuhl gefesselt. Ahmed nähert sich mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen. Der geknebelte Frisör fleht ihn mit den Augen um Gnade an. Mit gekünstelt untröstlicher Miene schüttelt Ahmed den Kopf und beginnt, mit der Schere auf ihn einzustechen. Blut spritzt ihm ins Gesicht. Immer noch Kanal 3, zweiter Film. Lauras Balkon. Sie ist schon tot. Der Mörder, der nur von hinten zu sehen ist, schnürt sie zusammen wie einen Braten. Die Muskeln unter seinem olivfarbenen T-Shirt wölben sich unter der Anstrengung. Dieser Rücken … dieser Rücken. Seit ihm das Gesicht sechsunddreißig Stunden zuvor im Traum erschienen ist, hat Ahmed Angst davor, das Gesicht des Mörders erneut zu sehen. Jetzt ist es der bildschirmfüllende Rücken, der ihn erzittern lässt. Er weiß schon im Voraus, was die nächste Einstellung zeigen wird. Das Lagerhaus in Aulnay-sous-Bois, die Szene, die er schon so oft gesehen hat. Der Rücken des Mörders. Der gleiche Rücken. Der gleiche Mörder. Seit vorgestern weigert er sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, die sich an den Grenzen seines Bewusstseins herumtreibt: Emma und Laura sind Opfer desselben Mannes. Des Mannes, der sich jetzt auf dem Bildschirm des Drogenrauschs umdreht, nachdem er zum x-ten Mal sein Opfer von vor fünf Jahren getötet hat.
    DAS GESICHT DES MÖRDERS
    Ein unvollendetes Gesicht, ein blondes Tier, dessen Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Wahnsinn und Schwachsinn liegt. Der Geist eines bösartigen, zwölfjährigen Jungen im massigen Körper eines fünfundvierzigjährigen Mannes. Ein Monster. Ein Schauder kriecht an Ahmeds Wirbelsäule entlang. In ihm kommt etwas ins Rollen. Seit fünf Jahren ist er besessen von diesem gesichtslosen Mörder, dessen Rücken schließlich zum Symbol uralter Ängste geworden ist. Ein Konzentrat aus den Schmerzen seines Vaters und allen Qualen seiner Mutter. Das Böse in seiner ganzen Banalität: der Rücken eines Schrankträgers, eingepackt in ein gestreiftes Polohemd. Dieses Bild hat ihn vor fünf Jahren aus der Welt ausgestoßen und zum Gespenst werden lassen. Jetzt aber stellt er fest, dass dieses Gesicht, das er so schrecklich fürchtete, ihn befreit. Endlich weiß er, wer sein Gegner ist.
    ANGST HASS WILLE
    Reisen. Atmen. Sich vom Bild des Mörders entfernen, um besser damit umgehen zu können. Ahmeds Geist driftet ab. Er wechselt die Dimension und kehrt in die Vergangenheit zurück. Die seltenen und wertvollen Momente seiner Kindheit, wenn Latifa ihm von seinen Vorfahren bis zurück zur dreizehnten Generation erzählte. Obwohl er schon viele Jahre nicht mehr an sie gedacht hat, erinnert er sich an die Namen seiner Ahnen: »Du bist der Sohn der Latifa, Tochter des Ibrahim, Sohn des Mohamed-Ansar, Sohn des Ethman, Sohn des Mansour, Sohn des Abdallah, Sohn des Omar, Sohn des Suleiman, Sohn des Anwar, Sohn des Ethman, Sohn des Ibrahim, Sohn des Seif-al-Islam, Sohn des Nur-ed-Dîn, Gründer der Dynastie des Ahel-dîn, der von jenseits der Wüste in die Kinawain-Berge kam.« Ahmed weiß nicht, wo sich diese Berge befinden. In Mauretanien oder Mali vielleicht? Nicht weit entfernt vom Land der Vorfahren seines Vaters, irgendwo zwischen Mopti und Gao. Diese unbekannten, aufeinanderfolgenden Ahnen, deren Gabe – oder ist es ein Fluch? – er geerbt hat: Dinge zu sehen, die er besser nicht gesehen hätte. In ihm mischen sich

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