Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Verlauf Revue passieren. Die Lieferung nach Holland war Ruben anvertraut worden, der alles gut erledigt hat und anschließend nach Niort gefahren ist, wo er die letzte Ladung von Vignola in Empfang genommen und in einem Lagerhaus für koschere Produkte am Boulevard MacDonald versteckt hat. Dieses Lagerhaus verfügt über eine Geheimtür zu einem anderen Lager, das nur Enkell und er kennen. Und nur sie besitzen einen Schlüssel zu dieser Tür. Sie könnten die Pillen bei Bedarf also innerhalb weniger Minuten diskret verschwinden lassen. Im Augenblick erweisen sich Ruben und seine chassidischen Freunde als durchaus nützlich. Sie sind die personifizierte Unschuld, zumal sie felsenfest davon überzeugt sind, dass die Kisten, die sie in den Kofferraum ihres Peugeot Boxer verfrachten, nichts als Tefillin, Mesusot und einige Torah-Rollen enthalten. Aber sie könnten eigentlich alles transportieren, so unverdächtig wirken sie dank ihrer Bärte, ihrer Schläfenlocken und ihrer Hüte. Wer hätte schon Angst vor Rabbi Jacob? Die Amerikanerin jedenfalls hat einen neuen Nachschubweg über Antwerpen ausfindig gemacht, und während sie hier darauf warten, dass die Aufregung sich legt, beschränkt sich der Verkauf zunächst auf Belgien und Holland. Was Paris betrifft, wird man später weitersehen. Eigentlich war vorgesehen, Vignola, Sam und Haqiqi auf einen Schlag loszuwerden. Doch jetzt, wo die Inszenierung des Meyer-Bruders die Aufmerksamkeit auf die Juden und Moslems und wegen des Opfers zu allem Überfluss auch noch auf die Zeugen Jehovas gelenkt hat, wäre das ziemlich unvorsichtig. Also müssen Sam und Haqiqi noch warten. Man kann sie nicht mit Laura in Verbindung bringen, und außerdem wird es ohne sie so gut wie unmöglich sein, das zwangsweise unterbrochene Geschäft in Paris wieder ans Laufen zu bringen. Der jüdische Frisör kontrolliert Ruben und seine chassidischen Transporteure, der Salafist kümmert sich um das Netz der Weiterverkäufer. Ganz anders sieht es in Bezug auf Vignola aus, der ihnen jetzt nichts mehr nutzt und einem neunzigminütigen Verhör durch Rachel mit Sicherheit nicht gewachsen ist. Sobald er morgen in Paris ankommt, wird man ihn klammheimlich beiseiteschaffen müssen.
Das Telefon klingelt. Sam ist dran. »Der Mann mit dem Aufschub«, denkt Aïssa und muss zum ersten Mal an diesem Morgen lächeln.
»Ja?«
»Können wir uns treffen?«
»Halbe Stunde.«
»Okay.«
Eine halbe Stunde später mimt Sam im Hinterzimmer eines Couscous-Restaurants in der Rue de l’Aqueduc den Schlauberger.
»Heute Morgen hat sich alles, was Rang und Namen hat, bei mir die Klinke in die Hand gegeben. Zuerst Ahmed der Träumer, dann deine Kollegen aus dem Neunzehnten, die Jüdin und der Bretone. Ahmed ist abgehauen, ehe seine Haare richtig fertig waren. Er hat ziemlich geschwitzt. Ich habe ihm aufgezeigt, dass er der ideale Verdächtige ist und dass die Bullen ihm mit Leichtigkeit jedes Geständnis entlocken können, wenn er seine Medikamente nicht nimmt.«
Aïssa hat Sam noch nie leiden können – diesen Dummkopf, der sich für gescheiter als der Rest der Welt hält. Der Mann versteht rein gar nichts, und es fällt Aïssa schwer, den Frisör seine Verachtung nicht spüren zu lassen. Wie kommt der Mann bloß auf die Idee, er könnte Kupfersteins und Hamelots Verdacht auf Ahmed lenken? Bildet er sich wirklich ein, dass Benamer die Kollegen schon von Ahmeds Schuld überzeugen wird? So, Leute, der Fall ist gelöst, danke und auf Wiedersehen. Während er so tut, als höre er aufmerksam und fast respektvoll zu, denkt er über die geeignete Todesart für den Frisör nach. Irgendetwas Einfaches – zum Beispiel eine Kugel ins Genick. Allerdings nicht ohne eine kleine vorherige Ansprache, schon allein, um sich für all die langweiligen Minuten zu rächen, in denen man ihn hat glauben lassen, er sei intelligent. Ohne etwas von Benamers Gedanken zu ahnen, beendet Sam seinen selbstzufriedenen Wortschwall.
»Ich habe Hamelot und Kupferstein gegenüber durchblicken lassen, dass Ahmed bei seinem letzten Haarschnitt auf sehr verdächtige Weise von Laura gesprochen hat. Alles andere weißt du ja schon. Wie gehen wir jetzt weiter vor?«
Aïssa deutet ein Lächeln an.
»Wenn du dich zunächst einmal damit begnügen könntest, gar nichts zu tun, wäre das schon nicht schlecht.«
29
Ahmed liegt ausgestreckt im Gras und lässt sich zu den rhythmischen Klängen einer von einem weißen Rasta gespielten Djembé treiben. Sams
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