Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Einsätze erfolgten immer in den schwierigsten Vierteln. Von Aulnay-sous-Bois gelangte er ins 15. Arrondissement von Marseille, von Vénissieux ins Pariser Achtzehnte. Benamer ist ihm an alle Dienststellen gefolgt und hat an seiner Seite alle Arten von Verbrechen aus dem Effeff gelernt: Zuhälterei, Hehlerei, Waffen- und Drogenschmuggel, Erpressung – das Repertoire des Teams umfasst alles. Ihre Stärke liegt darin, ein Gespür für den richtigen Moment zu haben, an dem sie eine Aktion abbrechen und zwei oder drei Zivilisten – mehr Mittelsmänner hatten sie nie – aus dem Verkehr ziehen müssen. Außerdem ist es Enkell in brenzligen Situationen immer gelungen, den Beginn von Ermittlungen zu unterbinden. Benamer hat nie herausbekommen, wer ihn schützt und warum. Er vermutet, dass es mit seiner Beteiligung an der Durchführung einiger Auftragsmorde in der etwas schwierigen Phase während der Regierungszeiten von Giscard und Mitterand zusammenhängt. Das war kurz vor ihrem Kennenlernen, aber eigentlich spielt es keine Rolle. Manchmal ist es von Vorteil, sich nicht um die Details gewisser Dinge zu kümmern.
In den letzten Tagen allerdings scheint zum ersten Mal ein schlechtes Omen über ihren Aktivitäten zu liegen. Begonnen hat es mit der Tochter von Vignola, die etwas gesehen hat, das sie nicht hätte sehen dürfen, was wiederum dazu führte, dass man sie ein für alle Mal ausschalten musste. Schlechtes Omen … Der ganze Ärger kommt daher, dass sie erstmalig die Hilfe eines Kollegen akzeptiert und damit gegen ihre sonst übliche Vorsicht verstoßen haben. Na ja, akzeptiert ist vielleicht nicht das richtige Wort. Francis Meyer, genannt der Dicke, hat sie mehr oder weniger dazu gezwungen. Er verfügt über äußerst präzise Informationen zu einem Großteil der Aktivitäten des Duos während der letzten zehn Jahre. Informationen, die er unmöglich allein zusammengetragen haben kann. Natürlich ist auch Enkell der Ruf des Vaters von Francis Meyer bekannt. Der »schöne Roger« war zwischen 1942 und 1973 in sämtliche üble Machenschaften der Pariser Polizei verwickelt und verschafft seinem Sohn auch heute noch, trotz seiner inzwischen neunzig Lenze, eine sehr solide Protektion. Es besteht also leider keine Möglichkeit, sich diesem Klotz am Bein auf diskrete Weise zu entledigen. Hinzu kommt, dass sich die Sache, die er ihnen auf einen Tipp hin vermittelt hat – der Tipp kam von Sam Aboulafia, einem jüdischen Frisör im Neunzehnten –, als wahre Goldgrube erweisen könnte. Die Spielregeln hat Enkell gleich zu Beginn klar und deutlich formuliert: Sämtliche Komplizen, die nicht der Polizei angehören und deren Spur zu ihnen führen könnte, müssen eliminiert werden. Angefangen bei Sam. Dem Dicken gefiel die Idee ausgezeichnet, sind doch abgesehen von einem verirrten Zeugen Jehovas alle Beteiligten entweder Juden oder Araber, die er liebend gern aus dem Verkehr ziehen respektive ziehen lassen würde. Francis Meyer hat allerdings »vergessen«, Enkell und Benamer über ein Detail zu informieren: Unangenehme Zeugen pflegt er von seinem Bruder Raymond ausschalten zu lassen, der trotz seiner unumstrittenen Kompetenz im Umgang mit Stichwaffen ungerechterweise nicht zur Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst zugelassen worden ist. Das Problem lag darin, dass Raymond sich gern mit allerlei Drogen zudröhnt. Und sein großer Bruder, der ihm nie einen Wunsch abschlägt, hat ihm ein paar dieser hübschen blauen Pillen geschenkt, mit denen sie ihr Glück zu machen gedachten. Geplant war, Laura spurlos verschwinden zu lassen, Raymond aber hat unter dem Einfluss von Godzwill den Mord an der jungen Frau als konzeptionelles Kunstwerk inszeniert. Und damit die ganze Geschichte ins Wanken gebracht.
Nach der Entdeckung der grotesken Szenerie rund um die Leiche der Flugbegleiterin hatte Enkell den Dicken zu sich zitiert. Sie trafen sich mitten im Touristengewimmel vor Sacré-Cœur. Der Dicke hatte sich von dem zornesbleichen Enkell aber keineswegs aus der Fassung bringen lassen: »Es macht ihm doch so viel Freude! Außerdem muss der Junge etwas zu tun haben, und er macht sich wirklich gern nützlich …« Der Commissaire Central hatte ihm nicht geantwortet und sich geschworen, den beiden Brüdern das Fell über die Ohren zu ziehen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot – Protektion hin oder her. Seinem Adlatus hat er befohlen, »sich um den Mist zu kümmern«.
Sich um den Mist kümmern. Benamer seufzt und lässt den bisherigen
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