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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Religion und Macht von der Seite seiner Mutter und magische Kräfte als Erbe des Vaters. Die Geschichte seiner Eltern verankert ihn in einer fernen, undenkbaren Welt. Vielleicht hat er deswegen außer Dr. Germain niemandem davon erzählt. Zum ersten Mal wird ihm das Gewicht des Schweigens bewusst, was ihn wiederum zu Laura zurückbringt.
    Er stellt sie sich vor, wie sie ihm begeistert lauscht. Mit halb geschlossenen Augen liegt Ahmed auf dem Gras und auf den Wolken und beobachtet, wie sie ihre großen Augen aufreißt und seine Worte geradezu trinkt, die ihr abenteuerlichere Reisen bescheren als jeder Air-France-Langstreckenflug. Er trägt sie Lichtjahre weit fort von der einengenden Welt, in der sie aufgewachsen ist und von der sie sich so schlecht befreien kann. Im Aufzug hat Laura ihm ab und zu von ihrer Jugend erzählt. Von den schrecklichen Erlebnissen einer Kindheit mit Eltern, die den Zeugen Jehovas angehören. Er hat ihr immer geduldig zugehört, aber nie etwas gesagt. Doch der jungen Frau genügte das. Plötzlich drängt sich eine Erinnerung auf, beinahe eine Offenbarung. Es war vor ungefähr zehn Tagen im Treppenhaus. Laura war gerade aus Niort gekommen und erzählte Ahmed fast eine Viertelstunde lang, dass sie ihren Vater einen Lügner und Betrüger genannt hatte. Er, der ihre Kindheit mit absurden Verboten vergiftet hatte, er, der sich anmaßte, das Sexualleben anderer Menschen zu kontrollieren, er, der stets Untadelige, hatte eine Geliebte in New York. Sie hatte die junge Frau, die ungefähr in ihrem Alter war, mit eigenen Augen gesehen und ihrer Mutter vor der Haustür des verbotenen Elternhauses alles erzählt. Mathilde Vignola hatte sie als Lügnerin und Hure beschimpft, sie angeschrien und versucht, sie zu kratzen. Schließlich war der Vater dazwischengegangen und hatte sein unwiderrufliches Urteil ausgesprochen: »Unkeusches Weib, du wirst deine Frechheit bitter bereuen. In dieser Welt – nicht in der anderen.« Damals hatte Ahmed diesem Satz kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Wie jedes Mal hatte er sich damit begnügt, seiner Nachbarin geduldig zuzuhören und halb anwesend, halb abwesend nicht zu reagieren. Erst heute, nachdem er sich aus seinem Gefängnis befreit und seinen Geist mit Dope stimuliert hat, begreift er plötzlich den Sinn des Ausspruchs. Lauras Vater hat seine Tochter explizit bedroht. Und das macht ihn zum Verdächtigen. Doch in welcher Beziehung steht er zu Sam? Egal, er muss Rachel anrufen.
    Irgendwann einmal hat er irgendwo gelesen, dass man im Jiddischen die Endsilbe »le« als Koseform benutzt. Rachel, Rachele.
    RA-CHE-LE

30
    Lincoln Center, Manhattan, dreizehn Tage vorher
    Seit zehn Minuten folgt er ihr durch die Abteilungen, ohne dass sie es bisher bemerkt hat. Sie ist vollkommen beschäftigt mit der Suche nach den Büchern, die auf ihrer Liste stehen. Frantz Fanon, Malcolm X, W. E. B. Du Bois, Toni Morrison, V. Y. Mudimbe. Dov beobachtet jede ihrer Bewegungen und registriert den Titel jedes Buches, das sie in ihren Korb legt. Mal betrachtet er das Foto, mal betrachtet er sie. Immer weiter.
    Auf dem Foto trägt sie eine hellbraune Perücke, einen langen Rock und einen Wollmantel. Ihre Bescheidenheit wirkt aufgesetzt.
    In Wirklichkeit hat sie dunkelbraune, gelockte Haare, die ihr lose auf die Schultern fallen, trägt Jeans und Bluse und wirkt ruhig und selbstsicher.
    Die vollen Lippen scheinen zu schmollen, zwischen Wangenknochen und rechtem Auge hat sie einen Schönheitsfleck, und auch der durchdringende Blick aus ihren grauen Augen sieht genau aus wie auf dem Foto. Es gibt nicht den geringsten Zweifel.
    Zu Beloved im Korb gesellt sich Black Skin , White Mask . Während Rébecca in der Kassenschlange wartet, postiert sich Dov auf dem Vorplatz. Drei Meter vor dem Ausgang. Was erwartet er? Dass sie ihm erklärt, warum sie keinen dicken, chassidischen Juden aus Amerika heiraten wollte? Nicht nötig! Während der zehn Minuten, in denen er sie in Aktion, beim Atmen und beim Leben beobachtet hat, ist ihm sehr schnell klar geworden, dass sie nichts, aber auch gar nichts von einer Ultraorthodoxen hat. Susan hat recht: Die Rébecca auf dem Foto ist ein Fake. Aber warum? Who cares? Er könnte einfach darüber lachen und für immer aus ihrem Leben verschwinden, in dem er ohnehin nie mehr als ein flüchtiges Bild gewesen ist. Er könnte sich in ein Schicksal treiben lassen, in dem er keine Rolle mehr spielen muss. Trotzdem bleibt er. Er bleibt ganz einfach, um ihr zu sagen: »Ich bin hier.

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