Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
professionelle Weise?«
»So könnte man es beschreiben. Dabei hat er sich faktisch lediglich auf die Vorschriften berufen, die besagen, dass Jehova vor allem anderen kommt. Vignola war so etwas wie der Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen. Und wir waren das Vieh, das ständig gemolken wurde. Bis wir es irgendwann sogar gut fanden. Wir waren ganz zufrieden. Obwohl wir zum Beispiel zweiundsiebzig Stunden im Monat aufbringen mussten, um Erwachet! zu verteilen. Wir haben es getan. Dreimal in der Woche stand ich mir vor dem Bahnhof von Niort die Beine in den Bauch, um andere Unglückliche zu rekrutieren …«
»Kannten Sie Laura?«
»Früher ist sie mir ab und zu über den Weg gelaufen. Sie hat ihre Familie an ihrem achtzehnten Geburtstag verlassen. Damals war ich kaum ein halbes Jahr Mitglied. Uns wurde verboten, auch nur ihren Namen zu erwähnen. Als hätte sie nie existiert. Ich erinnere mich, dass sie sehr hübsch und sehr zurückhaltend war. Aber ich glaube, ich habe nie mit ihr gesprochen.«
»Und ihr Vater hat tatsächlich nie wieder von ihr gesprochen?«
»Nein.«
»Haben Sie Vincenzo Vignola je gewalttätig erlebt?«
»Nein. Seine Waffe sind die Worte. Aber mit denen kann er töten.«
»Ich möchte meine Frage anders formulieren: Können Sie sich vorstellen, dass er jemanden tötet?«
»Nein. Aber worum geht es hier eigentlich? Im Chat sprach Ihr Kollege zwar von einem Verbrechen, hat sich aber sehr bedeckt gehalten. Geht es um Laura? Ist etwas mit ihr?«
»Laura ist tot. Halten Sie ihren Vater für fähig, so einen Mord zu begehen?«
»Dass Vincenzo Vignola seine Tochter tötet? Nein, das glaube ich nicht. Allerdings … ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das sage, aber ich bin mir nicht so sicher, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn ein anderer das übernehmen würde. Der Mann ist – wie soll ich sagen? – kalt. Wenn ich nur an ihn denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Okay, war es das? Brauchen Sie mich noch?«
»Nein, vielen Dank. Aber gestatten Sie mir vielleicht eine ganz persönliche Frage?«
»Bitte sehr.«
»Was hat es mit Ihrem Nickname auf sich? Potterlover666?«
Der ehemalige Zeuge Jehovas lächelt traurig.
»Potter steht für Harry Potter. Wir durften nicht ins Kino gehen, und die verpöntesten Filme überhaupt waren die Harry-Potter-Streifen. Die Fantasie und Zauberei made in Hollywood waren eine zu starke Konkurrenz für die irreale Welt, in die man uns versetzen wollte. Einer Welt, die ebenfalls voller Dämonen war. Daher Potterlover. Und die 666 ist die Zahl des Tieres oder Zahl des Antichristen. Um das Maß vollzumachen. Um mir immer vor Augen zu führen, dass ich mich entschieden habe – für die Welt der Dämonen. Wissen Sie, als ich die Zeugen verließ, überkam mich ein unstillbarer Wunsch nach Überschreitung sämtlicher Gebote. Einfach um mir zu beweisen, dass ich wirklich nicht mehr dabei bin. Meine erste Mahlzeit ›danach‹ war eine Blutwurst.«
»Blutwurst?«
»Ja. Ich wollte unbedingt Blut essen, weil es so streng verboten ist.«
»Blut ist verboten? Wie beispielsweise die Sache mit den Transfusionen?«
»Den Zeugen Jehovas ist es verboten, fremdes Blut in den eigenen Körper aufzunehmen. Auf welche Weise auch immer. Wissen Sie, was merkwürdig ist? Sobald ich von Verboten spreche, kommt mir sofort Vignola in den Sinn. Und auch wenn ich das nicht gerne zugebe – er macht mir immer noch Angst.«
32
Vincenzo Vignola bleibt abrupt stehen. Vor seinem Haus steht ein Polizeifahrzeug, und der Polizist, der ihn am Vortag befragt hat, klingelt offensichtlich Sturm. Er ist eine Weile spazieren gegangen, um nach der Abreise von Ruben mit der Ladung Godzwill einen klaren Kopf zu bekommen. Glücklicherweise hat er seine Brieftasche, seine Kreditkarte und sein Handy dabei. Glücklicherweise? Wenn er jetzt Geld abhebt oder telefoniert, findet man ihn doch sofort.
Jeanteau gibt das Klingeln auf, kehrt zum blau-weiß-roten Wagen zurück, wechselt einige Worte mit dem Polizisten am Steuer und geht zu Fuß weiter. Vignola wartet, bis er sich ein Stück entfernt hat, ehe er in eine Seitenstraße abbiegt. Bis zum Geldautomaten des Crédit Agricole braucht er fünf Minuten. Er hebt zweitausend Euro ab – den Höchstbetrag –, überquert die Straße, betritt einen Kiosk und kauft eine Telefonkarte. Kaum ist er wieder draußen, schaltet er das Handy aus, nimmt die SIM-Karte heraus und entsorgt beides in zwei verschiedenen Abfalleimern.
Irgendwie muss er nach
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