Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
stellvertretenden Commissaire in der Zahnradbahn auf dem Montmartre. Er berichtet von dem Anruf, verschweigt aber wohlweislich, dass er selbst den Namen Vignola ins Spiel gebracht hat. Benamer spürt, dass irgendetwas nicht stimmt, sagt aber nichts und verteilt die Aufgaben.
»Wir beginnen jetzt mit der Säuberungsphase. Du kümmerst dich um Haqiqi, ich um Sam und Vignola.«
»Aber der ist doch verschwunden.«
Aïssa Benamer schließt eine Sekunde lang die Augen, stößt einen leisen Seufzer aus und fährt dann fort:
»Okay, beginnen wir mit dem Einfachsten. Dein Bruder übernimmt den Trödler. Er wohnt bei ihm – es dürfte also nicht allzu schwierig werden. Allerdings bleibst du von Anfang bis Ende dabei und stellst sicher, dass er ordnungsgemäß vorgeht. Es muss wie ein Junkie-Verbrechen aussehen, das weißt du. Bloß keine verrückte Inszenierung unter Dope.«
Der grünäugige Kabyle wirft ihm einen stahlharten Blick zu.
»Du und dein Bruder, ihr werdet die Belohnung für Enkell und mich sein. Das kleine Schlussvergnügen dieser beschissenen Angelegenheit. Ganz egal, wer euch beschützt – die können auch nichts mehr für euch tun.«
Am Fuß der kitschigen Zuckerbäckerkirche auf der Kuppe des Montmartre trennen sie sich.
Meyer steigt den Pfad durch die Anlage zur Rue Muller hinunter. Anstatt jedoch auf sein Revier zurückzukehren, muss er erst einmal Dampf ablassen – natürlich bei dem Trödler, diesem Blödmann, der sich für unantastbar hält, weil er seit Monaten seinem bescheuerten Bruder ein Dach über dem Kopf bietet. Diesem Schnüffler, der den Mörder, der bei ihm wohnt, aushorcht und glaubt, er könnte damit so davonkommen. Nun, er wird eines Besseren belehrt werden. Dabei wird er laut Benamers Anweisung auch noch Anrecht auf eine Sonderbehandlung genießen, denn Junkies foltern nicht. Sie schlagen zu, und zwar schnell. Nachdem sie im Laden das Unterste zuoberst gekehrt haben und dabei an guten Tagen vielleicht zweihundertfünfzig Euros finden. Als er die Rue de Clignancourt erreicht, lächelt Meyer schon wieder. Auf dem Weg in die Rue Labat beginnt er leise zu lachen. Das ist ihm schon lange nicht mehr passiert.
Im Hinterzimmer des Trödelladens sitzt Raymond in einem Unterhemd von zweifelhafter Sauberkeit und einer Jogginghose undefinierbarer Farbe auf einer Schaumstoffmatratze, die ihm seit seinem Umzug vom Elsass nach Paris vor drei Monaten als Schlafstätte dient. Der Trödler sitzt ihm gegenüber, legt eine Pik 9 ab und ruft mit Kampfmiene: »Bataille!« In diesem Augenblick klopft jemand an die Fensterscheibe. Tok-Tok … Tok. Der Code. Georges steht auf, durchquert den Verkaufsraum und öffnet zunächst die Glastür und anschließend das Gitterschloss.
»Hallo Dicker. Alles im grünen Bereich? Wir haben uns gerade die Wartezeit mit einem Spielchen vertrieben.«
»Ihr wartet? Worauf?«
»Na ja, wir warten eben.«
Sie gehen im Halbdunkel durch das Lokal, das vollgestopft ist mit Verkaufsständern und Tischen mit Trödel aus dem dritten Viertel des 20. Jahrhunderts. Daneben ein paar Ventilatoren und Stehlampen, die in der spärlichen Beleuchtung ein beunruhigendes Eigenleben entwickeln. Francis Meyer stößt sich an einem Safe, der auf dem vergilbten Linoleumboden steht.
»Scheißtrödel!«
»Scheißtrödel? Du bist mir vielleicht einer. Wie lange ist dein Bruder jetzt schon im meinem Scheißtrödelladen zu Gast?«
»Schnauze«, antwortet der Dicke mit eisiger Stimme.
Die beiden Männer erreichen das Hinterzimmer. Raymond macht Anstalten, die üblichen Höflichkeitsfloskeln von sich zu geben. Als er jedoch dem Blick seines Bruders begegnet, schweigt er. Es ist einer dieser endgültigen Momente, in dem alles ins Wanken gerät. Und in einem Mord endet. Ein kleines Stück Ewigkeit. Jemanden zu töten ist ein metaphysischer Vorgang.
DIE
ZEIT
ANHALTEN
Mit verschränkten Armen stellt sich Francis zwischen Georges und die Tür. Auf der anderen Seite wartet Raymond. Er ist hellwach und umklammert mit der rechten Hand ein plötzlich von irgendwoher aufgetauchtes Laguiolemesser.
»Aber warum? Warum? Ich bin euer Freund. Ich habe euch immer geholfen. Ich war immer auf eurer Seite und habe zu euch gehört. Warum? Warum?«
Verzweifelt bemüht sich Georges, den Blick eines der Brüder festzuhalten. Vergebliche Liebesmüh. Er gehört längst zur anderen Seite. Rind, Lamm, Hühnchen … etwas in dieser Art. Er ist nicht mehr Teil der menschlichen Spezies, und sein Flehen berührt die
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