Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
beiden Brüder ebenso wenig wie das Quieken eines Ferkels den Metzger im Schlachthof.
»Mach es wie ein Junkie. Und dieses Mal keine Sperenzchen«, befiehlt Francis seinem Bruder.
»Okay, kein Problem. Willkürliche Messerstiche. Bauch, Hals, Brustkorb und schließlich auch zufällig ins Herz?«
»Genau so.«
George liebt es, wenn Raymond von seinen Morden berichtet. Immer will er noch mehr erfahren und ergötzt sich an Einzelheiten: Wie hast du ihn gefesselt? Der Klebestreifen über dem Mund, muss man ihn dann um den ganzen Kopf wickeln? Wie viele Messerstiche? Und wohin? Die Frau aus dem Möbellager hast du in dem Augenblick erdrosselt, als du kamst, richtig? Jetzt ist er selbst an der Reihe. Er weiß es. Er weiß es so genau, dass ihn seine wenigen Kräfte längst verlassen haben. Georges hat sich noch nie verteidigen können. Er genießt immer nur den Schmerz, den andere anderen zufügen. Aber seine Haut zu retten … nein, dazu ist er nicht in der Lage. Langsam gleitet er zu Boden, krümmt sich zusammen und stößt einen langen, unartikulierten Klagelaut aus. Der Singsang des Todgeweihten auf dem Sterbelager. Raymond tritt ihm ins verlängerte Rückgrat. Nicht zu stark. Gerade so viel, wie es braucht, damit er sich wieder ausstreckt. Blitzschnell tänzelt er um ihn herum und versetzt ihm einen ersten Stich in den Bauch. Georges brüllt auf. Der zweite Stich geht in den Hals, danach sind Thorax und Herz an der Reihe. Es dauert keine neun Sekunden. In dieser Zeit hat Francis seine Handschuhe übergestreift und den Raum auf den Kopf gestellt – Dosen mit Kaffee, Keksen und Milchpulver umgekippt, Packungen aufgerissen. Er hat die blinde Wut eines Abhängigen simuliert, der nicht weiß, wie er seinen nächsten Schuss bezahlen soll … Man muss wirklich ein Junkie in höchster Not sein, um ausgerechnet den Trödler Georges auszurauben. Quod erat demonstrandum .
Fünf Minuten später sieht der Tatort perfekt aus. Mit glänzenden Augen blickt Raymond seinen Bruder an.
»Siehst du, ich habe genau das getan, was du wolltest. Tack-Tack-Tack-Tack. Bauch, Hals, Brustkorb, Herz. Habe ich das gut gemacht? Bist du zufrieden mit mir?«
»Ja, Raymond, das hast du ganz toll gemacht.«
»Bekomme ich jetzt ein Godzwill?«
»Nicht sofort, Raymond. Nicht sofort.«
34
Avenue C, Alphabet City, Manhattan, dreizehn Tage vorher
Susan steht allein am Fenster und raucht einen Joint. Sie denkt an die junge Frau, die sie zwar nicht kennt, deren Leben aber in ihrer Hand liegt. Dabei empfindet sie nichts. Wenn etwas getan werden muss, dann packt sie es an. Und damit ist es gut. Einfach ist es allerdings nicht.
DER ÜBERGANG
Obwohl sie eigentlich nie darüber nachgedacht hat, hat sie diesen ersten Mord erwartet. Der Vorgang selbst interessiert sie nicht. Unabhängig davon, dass er Tausende Kilometer entfernt stattfindet. Aber die Macht, die er verleiht – die interessiert sie schon. Es ist ein ganz besonderes und neuartiges Gefühl, das sie an die Erfahrungen mit Godzwill erinnert. Es hebt sie auf das Niveau des bösartigen Gottes, unter dessen Blick sie aufgewachsen ist. Plötzlich fällt ihr ein, dass ihre Mutter ungefähr im gleichen Alter gestorben ist wie diese Laura. Es gibt also einen Zusammenhang. Das Blut dieser jungen Frau gegen das Blut ihrer Mutter. Damals, als ihr Vater der Transfusion nicht zustimmte. Susan erinnert sich an den Tag, an dem sie und James den Krankenbericht entdeckten. Damals waren sie neuneinhalb Jahre alt gewesen. Sie weiß noch genau, was sie sich damals versprachen, nachdem sie so viel geweint hatten: Sie werden nicht mehr an Jehova glauben, sie werden ihre Geburtstage heimlich feiern, sie werden sich nie trennen, und sie werden sich an ihrem Vater und an der Sekte rächen.
Eine Träne rinnt über ihre Wange. Sie weiß nicht, ob es eine Träne der Trauer oder der Freude ist, aber sie fühlt sich lebendig. Lebendig wie nie zuvor. Nancy hat mit ihrem lustigen Inuit-Akzent oft von Seelenfressern erzählt. In ihre Angst mischte sich immer ein gewisser Respekt.
DIE MACHT
Während all dieser Jahre hat sie ihren Vater dafür gehasst, dass er ihre Mutter hat sterben lassen, um Jehova zu gehorchen. Aber erst jetzt, als sie im Begriff steht, auf den grünen Knopf zu drücken, der Lauras Schicksal besiegelt, versteht sie endlich. Aus diesem ersten Mord hat er seine Kraft gezogen. Er, der sein Leben damit verbracht hatte, Dämonen zu verfolgen, wurde selbst zu einem solchen, als er dem Arzt erklärte, sein
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