Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Paris, und zwar auf möglichst schwierig zu verfolgenden Wegen. Die Polizei wird vermutlich den Bahnhof von Niort und die am Gare Montparnasse ankommenden Züge überwachen. Er kann aber mit dem Bus nach Poitiers fahren, dann mit dem Zug weiter nach Orléans. Von dort aus fahren Züge nach Étampes, wo die Regionalbahn nach Paris abfährt. Susan. Er spürt, dass er sie verlieren wird. Er weiß es ganz genau, und doch sehnt er sich danach, noch ein einziges Mal mit ihr zusammen zu sein. Und sich dabei seinen geheimsten Traum zu erfüllen: durch ihre Hand zu sterben. Auf dem Weg zum Busbahnhof kommt er an einer Telefonzelle vorbei. Er betritt sie und wählt die Nummer, die er längst auswendig kennt. Nach zweimaligem Läuten nimmt sie ab, hört sich an, was er zu berichten hat, und schlägt ihm schließlich vor, sich nicht wie vorgesehen im Concorde Lafayette zu treffen, das jetzt nicht mehr sicher genug ist. Er erinnert sich an ein Café an der Porte de Clignancourt, ganz in der Nähe eines Königreichssaals, in dem er im vergangenen Jahr einmal vertretungsweise eingesetzt war. Eine schwere Last drückt ihm fast das Herz ab, und plötzlich spricht er einen Satz aus, von dem er sich nie hätte träumen lassen, ihn je zu sagen:
»Susan, do you still love me?«
»But, of course, Vincenzo! Why would I cross the
Ocean tonight if I didn’t?«
»You’ll never leave me, will you?«
»Never. I’ll be with you till the end, my love. See you
tomorrow. I’ve got to go to the airport now …«
»All right, Susan … See you tomorrow.«
Eine Viertelstunde später erreicht der Flüchtige den Busbahnhof. Zwei Polizisten patrouillieren, sie sind weithin sichtbar. Es gelingt ihm, ungesehen in den Bus nach La Crêche zu steigen, der nächsten in Richtung Nordosten gelegenen Station. Von dort aus kann er eine Regionalbahn nach Poitiers nehmen. Sein letztes Bild von Niort ist der Anblick des Gebäudes der Versicherung MAIF, wo er heute arbeiten würde, wenn er nicht damals Mathilde begegnet und damit in ein Paralleluniversum geraten wäre, in dem er sich ein Leben und eine bescheidene Machtposition aufgebaut hat. Nein, er bereut nichts. Er hat das Gefühl, das Richtige getan zu haben, als er Jehova folgte und zu seinem Streiter wurde.
Ein großer Auchan-Supermarkt, ein Grillrestaurant Courtepaille, ein Castorama, ein Monsieur Meuble. Eine Total-Tankstelle. Maisfelder. Kühe. Er denkt an Susan und kann ihr nicht böse sein. Sie ist schuld an seinem Absturz. Sie hat die Ermordung seiner Tochter ermöglicht. Und doch ersehnt er nichts mehr, als sie wiederzusehen, den Kopf an ihre Schulter zu legen und ihren Duft zu atmen. Als könne das alles auslöschen und alles reparieren. Als wäre es möglich, noch einmal von vorn zu beginnen. Zurückzukehren zu dem Moment, als er den Status des Erwählten verließ, um ein left behind zu werden. Einer von den vielen, die für immer zu Staub zerfallen und Jehovas Königreich nie zu Gesicht bekommen werden.
33
Meyer, der Dicke, lümmelt sich in seinem Sessel. Schwarze Stiefel auf schwarzem Schreibtisch, grüner Kaugummi im Mund, Drei-Tage-Bart. Irgendwo klingelt ein Telefon, aber niemand hebt ab. Es ist der Apparat von Rachel. Als sich nach fünfzehn Sekunden immer noch keiner der anderen Beamten erbarmt, steht Meyer auf, tritt an ihren Schreibtisch und nimmt das Gespräch an.
»Lieutenant Meyer. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Guten Tag. Geht bei Ihnen auf dem Revier niemals jemand ans Telefon? Ich wollte gerade auflegen. Hier spricht Commissaire Jeanteau aus Niort. Ist Lieutenant Kupferstein nicht da? Ich habe es schon auf ihrem Handy versucht, aber da geht auch nur die Mailbox ran.«
»Sie ist außer Haus. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen möchten, gebe ich sie gern weiter.«
»Sagen Sie ihr bitte, sie möge mich dringend zurückrufen. Der Verdächtige hat sich aus dem Staub gemacht.«
Unwillkürlich ruft Meyer:
»Vignola!«
»Richtig, Vignola. Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Ja natürlich. Selbstverständlich. Aber keine Sorge, ich gebe es weiter. Auf Wiederhören.«
Meyer schwitzt. Ihn kann zwar so leicht nichts umhauen, aber er weiß, dass ihm gerade ein Riesenfehler unterlaufen ist, den Enkell ihm nicht verzeihen wird. Er weiß auch, wie er und Benamer mit ihm umspringen werden. Also muss er Zeit schinden. Die beiden beschäftigen. Lügen. Sich auf keinen Fall noch einmal kalt erwischen lassen.
Eine SMS und vierzig Minuten später sitzt der Dicke mit dem
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