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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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Frömmigkeit sich in einem vernünftigen Rahmen hielt, aber wirklich nah fühlte sie sich nur ihrem Vater. Ihm wollte sie ähnlich sein, selbstverständlich ohne Fragen zu stellen. Bintou nahm sich eher ihre Mutter Hawa zum Vorbild. Die war eine energiegeladene Frau, die sehr persönliche Gründe hatte, gegen eine überkommene Weltordnung aufzubegehren, auch wenn sie nie darüber sprach. Mit Ausnahme einer einzigen Gelegenheit mit ihrer Tochter. Das Gespräch hat sich Bintou für alle Zeit ins Gedächtnis gebrannt.
    Lieutenant Kupferstein eilt mit großen Schritten auf die beiden Frauen zu. Rachel ist genau so, wie sie beide später einmal werden wollen. Nicht unbedingt Polizistin, sondern einfach eine gestandene Frau. Die ihnen gerade in die Augen blickt, als sie sie erreicht und dann mit einer Kopfbewegung in Richtung des Quais deutet. Sie hat keine Zeit, sich irgendwo hinzusetzen – der nächste Termin drängt schon. Also gehen sie ein Stück am Kanal entlang. Das genügt, um sich auszusprechen. Zumindest beinahe.
    Bintou hält die Luft an, wie damals in der Schule, kurz bevor sie in das blaue Wasser mit den schwankenden Linien eintauchte, und legt los.
    »Wir standen an der Straßenecke, und sie liefen an uns vorbei, einer nach dem anderen, ohne uns zu sehen. Wie spät war es da wohl? Vielleicht ein Uhr morgens. Es war warm, und wir wollten uns noch nicht trennen. Es gab noch so viel zu besprechen, und wir hatten Lust, zusammen zu sein. Gerade hatten wir eine Stunde über Skype mit Rébecca gesprochen. Laura war nicht dabei. Sie sollte erst am nächsten Morgen aus Los Angeles zurückkommen, aber da würden wir schon längst wieder in der Uni sein. Wir hätten doch nicht mal im Traum daran gedacht, dass wir sie nie mehr wiedersehen würden! Wie auch? Woher hätten wir wissen sollen, dass vor unseren Augen gerade ihr Schicksal besiegelt wurde?«
    Bintou bleibt stehen und senkt den Kopf. Als sie ihn wieder hebt, sind ihre Augen mit Tränen gefüllt. Rachel ist betroffen. Sanft hakt sie nach.
    »Haben Sie versucht, nach ihrer Rückkehr Kontakt zu ihr aufzunehmen?«
    »Wir haben angerufen, aber ihr Handy war ausgeschaltet. Nach langen Flügen mit großer Zeitverschiebung haben wir sie immer in Ruhe gelassen, sie brauchte dann ihren Schlaf. Deshalb waren wir auch nicht weiter beunruhigt.«
    Rachel geht langsam weiter und stellt die nächste Frage.
    »In der Nacht, von der Sie gerade sprachen – wen haben Sie da gesehen?«
    »Sämtliche Mitglieder von 75-Zorro-19. Es war ausgesprochen merkwürdig. Zuerst kam Moktar mit seiner etwas zu langen Caprihose von Adidas, seinem Kamiss und seinem Gebetskäppchen. Mit einer halben Minute Abstand folgten ihm unsere Brüder Alpha und Mourad in ihrem Allerweltsoutfit, ehe etwa fünf Minuten später Ruben mit Kippa und Zizijot nachkam und wie die anderen zu Sam ging. Wir trauten unseren Augen kaum, aber immerhin sahen wir beide das Gleiche. Als unsere Brüder vorbeiliefen, haben wir uns schnell versteckt. Seit vier Jahren, seit sie mit Moktar Haqiqis Gebetssaal besuchen, leben sie in einer eigenen Welt, wir haben kaum noch Kontakt. Am Anfang haben sie versucht, auch uns zu bekehren, aber als das nicht funktionierte, haben sie damit aufgehört. Seitdem haben wir uns nicht mehr viel zu sagen und gehen uns möglichst aus dem Weg. Als Ruben den Frisiersalon betrat, setzte er sich neben Sam und grüßte die anderen mit einem Kopfnicken. Es wirkte nicht gerade herzlich, aber sie haben so viele Jahre überhaupt nicht miteinander geredet … Dann sind wir weitergegangen, wir waren ziemlich besorgt. Die ganze Geschichte kam uns dermaßen bizarr vor, dass wir zuerst gar nicht darüber reden konnten. Aber seitdem Laura tot ist, geht uns die Sache nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas stimmt da nicht. Wieso treffen sich ehemalige Freunde, die später zu Feinden wurden, auf diese Weise wieder? Und warum bei Sam?«
    »Haben Sie sie gefragt?«
    »Das haben wir uns nicht getraut. Wir wollten erst wissen, was Sie davon halten. Und wir wollen unbedingt wissen, wer Laura getötet hat. Natürlich soll unseren Brüdern nichts Schlimmes passieren, aber wir wollen wissen, was los ist.«
    Bintou schaut Rachel an. Über ihre Wangen rollen Tränen. Lieutenant Kupferstein nimmt die Hand der jungen Frau und drückt sie fest.
    »Sie wollen nicht, dass ihnen etwas Schlimmes passiert, aber Sie wollen trotzdem die Wahrheit wissen? So leid es mir tut – aber ich fürchte, Sie werden sich entscheiden müssen. Ich

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