Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
möchte dich bitten, nicht zu versuchen, mich wiederzufinden. Kann ich dir vertrauen?«
»Aber sicher. Keine Sorge, ich lasse dich bestimmt in Ruhe.«
Fünf Minuten später und drei Straßen weiter bleibt Dov an einem Fußgängerüberweg stehen und starrt auf das Display seines Telefons. »Susan« steht da. Zögernd kreist sein Finger über der Kurzwahltaste. Dann schließt er die Augen und drückt sie. Er ist sich der Konsequenzen durchaus bewusst.
31
Die jungen Frauen stehen vor dem Point Éphémère. Der Ort kommt ihnen vor wie eine Metapher für das Dasein im Allgemeinen und ihre augenblickliche Situation im Besonderen. Angespannt warten sie auf Rachel. Seltsamerweise ruhen all ihre Hoffnungen, basiert all ihr Vertrauen auf dieser Polizistin. Natürlich wünschen sie sich, dass Lauras Mörder bestraft wird. Aber sie würden ihren Brüdern auch gerne helfen, aus dem Schatten zu treten, in den sie sich geflüchtet haben. Dieses Verhalten gibt ihnen immer noch Rätsel auf. Warum die Brüder, sie aber nicht? Ab welchem Zeitpunkt sind sie zur dunklen Seite abgedriftet? In ihrer Kindheit und Jugend haben die Frauen ihre großen Brüder voller Hingabe bewundert. Die Zeiten von 75-Zorro-19 waren wie ein anhaltender Trancezustand. Bintou, Aïcha und Rébecca gingen zu jedem Konzert und sprühten den Namen der Gruppe an alle Wände des Viertels. Bis zu jenem unvergesslichen Nachmittag, als sie selbst auf die Bühne stiegen, um vor Publikum einen Tanz darzubieten, den sie wochenlang eingeübt hatten, inspiriert vom Prolog des Films Do The Right Thing von Spike Lee. Fünf Minuten Energie und pures Glück. Als hätte genau in diesem Augenblick ganz offiziell ihr wahres Leben angefangen. Gleich danach begannen die Vorbereitungen für das Abitur, und die Hip-Hop-Musik und ihre Brüder rückten für einige Monate ins zweite Glied. Irgendwann während dieser Zeit drehte Moktar durch. Bintous Mutter Hawa meint, dass damit alles anfing. Dazu muss man allerdings wissen, dass sie Codou, die Mutter des Beatboxers, noch nie leiden konnte. Sobald sie von Codou spricht, wird ihr Gesicht hart und ihr Mund schmal, und in den Mundwinkeln bildeten sich kleine, strenge Fältchen. »Es liegt an ihr. An Codou. Ich kannte sie schon damals in Marokko. Schon dort war sie ständig eifersüchtig und neidisch. Selbst ihrem eigenen Sohn hat sie den Erfolg nicht gegönnt und die ganze Gruppe mit einem Fluch belegt. Mit dem Resultat, dass Moktar in seinem lächerlichen Kamiss an Straßenecken herumsteht und Ruben einen albernen Hut trägt. Wie ein Gangster. Und was Alpha und Mourad angeht … die verbringen den größten Teil des Tages in einem winzigen Gebetssaal mit diesem Möchtegern-Imam. Ich bete jeden Tag, dass sie endlich wieder da herausfinden. Und wenn es so weit ist, werdet ihr schon sehen! Irgendwie sind sie alle meine Kinder. Ich habe ihnen zu essen gegeben, und ich habe sie aufwachsen sehen. Und was Codou betrifft, könnt ihr mir glauben, dass sie es bestimmt nicht ins Paradies schafft.« Aïcha und Bintou glauben nur sehr bedingt an Flüche, Gebete und Schutz durch Magie. Das sind Dinge, die mit der alten Heimat zu tun haben. Das allmähliche Abgleiten ihrer Brüder jedoch bleibt ihnen ein Rätsel. »Warum sie und nicht wir?« Genau genommen kennen sie die Antwort, obwohl sie die noch nie laut ausgesprochen haben. Es liegt an ihren Eltern und deren Art zu leben, sich zu bewegen und zu reden. Die Mädchen waren bereit, gewisse Worte, Gesten und Blicke anzunehmen, während ihre eher äußeren Erfolgen zugewandten Brüder diesen keine Beachtung schenkten. Sie verwendeten ihre Energie gegen die bösen Blicke, mit denen ein Teil der Gesellschaft die jungen, muslimischen Männer betrachtete, die von der postkolonialen Republik als neue Gefahr gesehen wurden. Die Versuchung, das Stigma umzukehren und die Religion, die man ihnen ständig vorwarf, stolz zur Schau zu tragen, war groß.
Bintou und Aïcha haben diese Feindseligkeit gegenüber dem Islam nie so empfunden, es war ihnen ganz einfach egal. Sie hatten ihren Platz gefunden und ließen sich durch nichts beeinflussen. Diese Haltung in Bezug auf ihr Umfeld wurde vor allem bei Aïcha stark von ihrem Vater geprägt. Arezki war Konditor und ein gerechter Mensch. Nie hatte sie erlebt, dass er jemandem etwas Böses tat oder schlecht über jemanden redete. Sie hatte ihn auch nie beten oder fasten sehen, auch über Gott sprach er nicht. Natürlich liebte sie ihre Mutter Khadidja, eine Frau, deren
Weitere Kostenlose Bücher