Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
sich dem Unabänderlichen zu stellen. Man klammert sich an alles Mögliche.
»Und Haqiqi? Ich sollte mich doch um Haqiqi kümmern.«
»Ach ja, richtig. Aber weißt du, ich habe mich dazu entschlossen, das selbst zu übernehmen. Es erschien mir irgendwie logischer. Also, kommt ihr jetzt? Oder wollt ihr, dass wir es gleich hier erledigen?«
Raymond gibt nicht so schnell auf wie sein Bruder und versucht zu entkommen. Er hat sich jedoch kaum in Bewegung gesetzt, da tritt schon eine Gestalt aus dem Schatten und drückt ihm eine Glock in die Seite. Er wendet den Kopf und kreuzt den eisigen Blick von Enkell. Aber er will noch nicht sterben, auf keinen Fall … Er versucht, seinen Angreifer wegzustoßen und sich in den Besitz der Waffe zu bringen. Ehe er jedoch begreift, wie ihm geschieht, findet er sich innerhalb von zwei Sekunden im Polizeigriff wieder. Sein Gesicht wird gegen die Wand des Trödelladens gedrückt. Schon seit mehreren Tagen träumt Enkell davon, den Urheber der grotesken Inszenierung um den Mord an Laura in die Finger zu bekommen. Er zwingt ihn in Richtung des mausgrauen Scenic mit den weit geöffneten Türen und raunt ihm ins Ohr: »Nun, Meyer Zwei, wir haben also ein Faible fürs Dramatische? Haben wir etwa den falschen Beruf ergriffen? Schade, dass wir zum Mörder geworden sind, denn eigentlich schlägt unser Herz ja eher für die Kunst. Aber als Mörder sollte man besser ein wenig diskreter vorgehen. Zumindest, wenn man den Beruf weiter ausüben möchte.« Der Commissaire genießt diesen Augenblick. Sein Griff um den Unterarm des dicken Raymond wird härter. Zunächst ganz langsam. Er möchte den zunehmenden Schmerz des jüngeren Meyer-Bruders mit allen Sinnen genießen. Raymonds Gesicht wird rot. Schweiß läuft in kleinen Schmutzbächen über sein Gesicht. Plötzlich macht Enkell eine kurze, harte Bewegung. Es knackt. Raymond schreit erstickt auf. Seine Schulter ist ausgekugelt. Er sinkt auf dem Rücksitz des Wagens in sich zusammen.
Francis kümmert das Schicksal seines Bruders wenig. Als Enkell aus dem Schatten trat, kam ihm plötzlich die Erinnerung an Großvater Meyer. Der war Weinbauer im Elsass und konnte seinen Sohn, den schönen Roger, der in Paris Bulle und Zuhälter geworden war, nicht ausstehen. Jeden Sommer verbrachten Francis und sein Bruder Raymond zwei Monate bei dem Alten, vor dem sie sich fürchteten und der keine fünfundzwanzig Worte Französisch am Tag sprach. Hinzu kamen höchstens fünfzig auf Elsässisch, das zu sprechen sich die beiden Jungen jedoch hartnäckig weigerten. Für sie wäre es eine Erniedrigung gewesen, auf ihr fragwürdiges Prestige als kleine Pariser zu verzichten. An solche Dinge denkt Francis, während er sich Handschellen anlegen lässt und sich brav neben seinen vor Schmerz und Verzweiflung stumpfsinnigen Bruder auf die Rückbank des Autos setzt, mit dem sie ihre letzte Reise antreten. Hätte er den alten Meyer damals besser verstanden, säße er vielleicht heute nicht hier.
Enkell startet. Benamer sitzt auf dem Beifahrersitz und zielt abwechselnd auf die Brüder. Der Wagen fährt an der bunt bemalten Mauer der Rue Ordener entlang. Mit Gaslampen und Sprühflaschen bewaffnet sprühen gerade zwei Sprayer einen Yankee-Bullen mit Käppi und überdimensionaler Knarre an die Wand, der einen Panzerknacker verfolgt, der mit einem Sack voll Gold aus Dagobert Ducks Geldspeicher flieht. Francis Meyer hat den Sprayern, die manche Möchtegern-Bohemiens gerne als »Künstler der Straße« bezeichnen, nie mehr als eine leicht verächtliche Gleichgültigkeit entgegengebracht. Doch hier entsteht vor seinen Augen das letzte Bild, das er je sehen wird: Ein Schwarzer und ein Weißer in Overalls, Turnschuhen und Bandanas graben den intimsten Teil seiner kindlichen Fantasie aus, der mit den Sommern im Elsass zu tun hat, als er jeden Donnerstag sehnsüchtig auf das Eintreffen des nächsten Mickymausheftes im Krämerladen des Dorfes wartete. Ungeduldig blätterte er die Zeitschrift immer sofort durch, um zu sehen, ob die Panzerknacker mit dabei waren. Das waren bei weitem seine Lieblingshelden, auch wenn Kommissar Hunter sie fast jedes Mal wieder einfing.
Enkell biegt in die Rue de la Chapelle ein und fährt Richtung Norden. Raymond öffnet ein Auge und sieht sich um; beim Versuch, sich aufzurichten, entfährt ihm ein erstickter Schrei. Benamer lächelt ihn an.
»An deiner Stelle würde ich mich mit einer ausgekugelten Schulter nicht allzu viel bewegen. Aber wo wir hier
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