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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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gerade so nett beisammensitzen, könntest du mir vielleicht erklären, was es mit den drei Orchideen auf dem Toilettensitz auf sich hatte? Das mit dem Schweinebraten verstehe ich ja noch, aber die Orchideen? Keine Ahnung. Ist mir da etwas entgangen?«
    Raymond wirft ihm einen hasserfüllten Blick zu, schließt die Augen und schweigt.
    Francis lacht auf.
    »Das bringt dich zum Lachen?«
    »Willst du es wirklich wissen?«
    »Sicher.«
    »Okay, ich sag’s dir. Aber nur unter einer Bedingung.«
    »Raus damit.«
    »Ich habe eine Godzwill in meiner Brusttasche. Steck sie mir in den Mund. Jetzt ist es ohnehin egal.«
    Raymond öffnet die Augen. »Nicht, Francis!«, röchelt er. Er versucht eine Bewegung auf seinen Bruder zu, fällt aber laut stöhnend auf den Sitz zurück. Benamer achtet nicht auf ihn, nimmt die Pille und legt sie wie eine Hostie auf die Zunge seines Kollegen. Francis schluckt die Tablette trocken hinunter, atmet tief ein und schweigt. An der Porte de la Chapelle biegt Enkell rechts ab. Auf dem Boulevard Ney wiederholt Benamer seine Frage.
    »Was ist jetzt mit den Orchideen?«
    Francis grinst wie über einen Witz, dessen Pointe nur er allein kennt.
    »Ist dir das kleine Tattoo an Raymonds Handgelenk nicht aufgefallen?«
    »Nein.«
    »Drei Punkte. Sagt dir das etwas?«
    »›Nieder mit der Bullerei!‹ Aber warum? Warum trägt das der Sohn und Bruder eines Bullen, jemand, der von der Polizei immer für seine Schandtaten gedeckt wird?«
    »Aus Neid. Er war immer neidisch. Er hat nie verwunden, dass man ihn nicht zur Aufnahmeprüfung zugelassen hat. Aber er ist einfach zu dumm. Nicht mal als Verkehrspolizist zu gebrauchen. Und da hat er sich eines Tages das Zeichen stechen lassen. Mein Vater hat ihn sich dafür ganz schön zur Brust genommen. Es war Raymonds letzte Tracht Prügel, aber die hatte es in sich. Ja, und mit dieser neuen Droge … Ich weiß auch nicht – er war irgendwie inspiriert. Es war doch hübsch, oder? Geradezu poetisch.«
    Francis Meyer schweigt. Die Pille beginnt zu wirken. Er fühlt sich wohl und ist zufrieden, sein bevorstehendes Ende aufmerksam verfolgen zu können. Der korrupte und kriminelle Lieutenant hat das Stadium der Resignation längst hinter sich. Jetzt versteht er alles. Sein Bewusstsein nimmt kosmische Dimensionen an. Seine Rolle auf dieser Erde war es, andere zu schädigen, was durchaus keine Kleinigkeit ist. In der großen Gesamtheit, in der Totalität, in der Unendlichkeit hat er seinen Platz vermutlich ausgefüllt. Enkell und Benamer sind auf einem höheren Niveau. Ihnen obliegt es, die Aufgabe weiterzuführen. Böses um des Bösen willen zu tun. Ihr Schicksal zu erfüllen – ebenso wie seins, indem sie es unterbrechen. Ein wenig zu spät begreift er, dass Verbrechen eine ernste Sache sind. Sie taugen nicht zum Hobby. Die beiden anderen sind Profis, er selbst nur Amateur. Er muss zurücktreten und ihnen den Platz überlassen. Ganz klar.
    LETZTE REISE
    »Aber er ist einfach zu dumm. Nicht mal als Verkehrspolizist zu gebrauchen.« Francis’ Worte wirbeln im Kopf seines kleinen Bruders herum. Auf dem Boulevard MacDonald richtet er sich langsam auf. Seine Schmerzen ignoriert er, so weit das möglich ist. Enkell bremst und biegt nach links in eine Allee ab. Raymond besteht nur noch aus rasender Wut. Eigentlich möchte er noch nicht sterben. Aber es ist ihm egal. Wirklich gelegen ist ihm nur daran, seinen großen Bruder zu töten. Ihn zu ermorden. Ihm zu zeigen, wen er verachtet.
    Der Scenic bleibt vor einem Lagerhaus stehen. Eine schwache Glühbirne erhellt das eiserne Eingangstor nur notdürftig. Jetzt geht es darum, die beiden Opfer ihrem Schicksal zuzuführen. Natürlich wollen Todgeweihte jede zusätzliche Minute Leben auskosten und ihr letztes Stündlein lieber drinnen als draußen schlagen hören. Meistens gehorchen sie dumpf und blind, aber das funktioniert nicht immer. Enkell steigt aus dem Auto und öffnet die Tür auf der Seite von Francis, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Benamer verfährt mit Raymond auf die gleiche Weise. Doch Raymond bewegt sich nicht vom Fleck. Sein Bruder steht schon im orangefarbenen Lichtfleck vor dem Eingang, dicht gefolgt vom Commissaire Central des 18. Arrondissements mit seiner nicht vorschriftsmäßigen Glock. Benamer wird ungeduldig.
    »Raymond, stell dich nicht an. Steig aus.«
    »Geht nicht. Es tut zu weh.«
    Es dauert einfach zu lange. Bloß nicht zu lange ohne Deckung bleiben. Mit kalter Stimme sagt Enkell:
    »Mach es einfach

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