Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
dort. Ist nicht schlimm, sauber kriegen wir es allemal.«
»Lieber nicht. Ich habe keinen Schalldämpfer dabei. Außerdem habe ich keine Lust, die fette Leiche hinterher reinzuschaffen.«
Benamer nähert sich dem dicken Raymond, der große Schmerzen zu haben scheint. Selbst gute Profis machen manchmal Fehler. Alles geht ganz schnell. Meyer Zwei packt den Lauf von Benamers Waffe und zertrümmert in der gleichen Bewegung den Augenbrauenbogen des kabylischen Commissaires, dessen Kopf er gegen die B-Säule schmettert. Mit der Waffe in der Hand lässt er sich nach unten gleiten. Bis Enkell sich umgedreht hat, steht ihm Raymond schon mit gezückter Waffe gegenüber.
»Lass mich einfach nur meinen Bruder erledigen. Danach mache ich mich vom Acker. Du und dein beschissener Araber, ihr interessiert mich nicht.«
Die beiden Gegner beschreiben eine geradezu elegante Kurve, ohne sich aus den Augen zu lassen, bis Francis seinem kleinen Bruder in der Schusslinie genau gegenübersteht. Der ältere der beiden Meyer-Brüder hat seinen Aufstieg vollendet. Wie ein lebendiger Gott spricht er zu seinem jüngeren Bruder:
»Was du suchst, findest du nicht hier. Du tötest mich in dem Augenblick, in dem ich die Göttlichkeit erreiche. Du tötest mich in dem Augenblick, in dem ich den Tod herbeisehne. Um wie viel begehrenswerter ist doch mein Platz gegenüber dem deinen! Wie lange wirst du noch brauchen, um zu verstehen? Das Leben ist doch …«
Peng. Peng. Peng. Drei Schüsse unterbrechen die Litanei. Einer in jedes Knie, einer in die Eier. Und wieder steht Enkell Raymond gegenüber, der sich langsam in die Dunkelheit zurückzieht.
»Schmerz holt einen von jedem Trip zurück. Du kannst ihn jetzt abknallen. Mir ist es egal. Dann erfährt er wenigstens im Tod, wer sein Bruder ist.«
Eine Sekunde lang glaubt der Commissaire Central an eine Halluzination. Von Raymond bleibt nichts als ein ironisches Lächeln, das in der Dunkelheit schwebt.
37
Schon seit zwölf Minuten beobachtet Jean die Bläschen in seinem Perrier, als Léna mit einem etwa sechzigjährigen, sehr mageren und etwas gebeugt gehenden Mann das Sarah-Bernhardt betritt. Sie stellen sich einander vor und bestellen. Der Psychiater nimmt einen Cappuccino, die Sozialarbeiterin eine Cola-Rum. Der Arzt wirft einen Blick auf die Uhr.
»Sie sind also an Informationen über Ahmed Taroudant interessiert. An Hinweisen, die ich Ihnen nicht geben darf. Léna hat mir erklärt, worum es geht, und ich habe großes Vertrauen zu ihr. Dennoch lege ich großen Wert darauf, zwei Punkte klarzustellen: Erstens hat dieses Treffen hier nie stattgefunden, und wir haben uns nie gesehen. Ist das klar?«
Er versenkt seine himmelblauen Augen in die von Jean.
»Völlig klar, Herr Doktor.«
»Und zweitens werde ich Ihnen lediglich das unbedingt notwendige Minimum mitteilen. Nur das, was Sie wissen müssen, um zu verstehen, dass er unschuldig ist. Hätte ich auch nur den geringsten Zweifel daran, würde ich das allerdings mit Sicherheit nicht der Polizei mitteilen, sondern einfach den Mund halten. Psychiater und erst recht Psychoanalytiker sind nicht dazu da, Leute ins Gefängnis zu schicken.«
»Nur mal so aus Neugier, Herr Doktor: Würden Sie nichts unternehmen, wenn Sie ihn für schuldig hielten?«
»Mit aller gebotenen Höflichkeit, Lieutenant, aber das geht Sie absolut nichts an. Lassen Sie uns also anfangen. Ich kenne Ahmed Taroudant seit fünf Jahren. Damals litt er unter einem akuten Wahnzustand. Er wurde aufgegriffen, als er orientierungslos auf der Stadtautobahn herumlief. Er wusste nicht mehr, wer er war, und redete unverständliches Zeug. Drei Wochen habe ich ihn in Maison-Blanche behandelt, später kam er dann in meine Praxis in der Stadt. Dazu muss man wissen, dass sich seine Mutter schon seit seiner Jugendzeit wegen Schizophrenie in einer geschlossenen Anstalt befindet. Ahmed hat sich ganz allein durchgeschlagen. Angesichts dieser Vorgeschichte kann man den Wahnzustand als durchaus normale Reaktion ansehen, wenn nicht sogar als Zeichen für geistige Gesundheit. Hätte er diesen Schritt übersprungen, wäre er möglicherweise selbst in die Schizophrenie abgedriftet.«
»Und seine Mutter?«
»Als sie sich das letzte Mal sahen, ist es … sehr unangenehm gelaufen. Ich habe Ahmed geraten, sie nicht mehr zu besuchen. Für ihn war es die einzige Möglichkeit, sich psychisch aus der Affäre zu ziehen.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich nachhake, Herr Doktor, aber was meinen Sie mit
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