Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)
Glaube verbiete ihm, das Leben seiner Frau mit dem Blut eines anderen Menschen zu retten. Das ewige Leben sei wichtiger als das Leben hier auf Erden. Es war diese Entscheidung, die ihn verwandelte und aus ihm einen so außergewöhnlichen Missionar machte, dass die Zentrale aufmerksam wurde. Dank dieses ersten Mordes wurde er zu jenem seltsamen Wesen, das den Inuit so freundlich begegnete, dass sie sich angenommen fühlten und zu seinem Glauben konvertierten, obwohl er sie aus tiefstem Herzen hasste. Und auf diese Weise führte sein Weg an die Spitze der Organisation.
Susan hasst ihn noch immer mit der gleichen Intensität. Trotzdem fühlt sie sich ihm nah – näher denn je. Auf dem Display des Telefons steht eine Nummer, die mit der internationalen Vorwahl für Frankreich beginnt. Sie zieht ein letztes Mal an ihrem Joint, drückt ihn aus, wirft einen Blick auf die Uhr, rechnet aus, dass es in Frankreich jetzt zwei Uhr morgens ist, und drückt auf den grünen Knopf. Es läutet vier Mal, dann wird abgehoben.
»Hi, Aïssa, it’s Susan. I’m afraid we have a serious problem. I need your help to solve it … How should I say?
Definitely …«
» Hi, Susan, sure . Worum genau geht es?«
Fünf Minuten später schenkt sie sich ein Glas Seven Up ein und atmet tief durch. Auf diesen Moment hat sie ihr Leben lang gewartet. Gleich wird sie James und Dov anrufen und sich mit ihnen bei Starbucks am First Avenue Loop verabreden. Sie hat schreckliche Lust auf ein Brownie und einen leckeren Frapuccino. Mit den beiden. Sie ist glücklich wie nie zuvor.
35
Ahmed ist noch einmal nach Hause gegangen, um zu duschen und sich umzuziehen, ehe er sich mit Rachel und leider auch Jean trifft. Fernanda sitzt vor der Portiersloge und sonnt sich. Sie ruft ihm zu:
»Monsieur Taroudant, da wartet ein junger Mann auf Sie. Er ist schon mal hinaufgegangen und steht vor Ihrer Wohnungstür.«
»Aber ich erwarte niemanden.«
»Ich habe ihn schon mal gesehen – er war im vergangenen Jahr schon bei Ihnen. Ihr Cousin, wenn ich mich recht erinnere.«
»Mohamed … Ah ja. Okay, vielen Dank.«
Den Brief, in dem sein Cousin ihm ankündigte, dass er den Sommer in Paris verbringen will, hat er völlig vergessen. Wann war er doch gleich gekommen? Genau! Gestern! Gestern hat er den Brief erhalten! Nun, Mohamed hat offensichtlich nicht lange gefackelt. Aber was soll er jetzt mit ihm anfangen? Als er aus dem Aufzug steigt, sieht er ihn schon im Flur auf und ab gehen. Jeans, großgeblümtes Hemd, Lächeln, Umarmung, Begrüßung.
Zehn Minuten später sitzen sie bei einer Tasse Kaffee, und Mohamed berichtet von den vergangenen acht Monaten. An das Leben in Bordeaux hat er sich gewöhnt und sein Semester ohne Probleme beendet. Frankreich gefällt ihm gut, und fern von der Familie lebt es sich wunderbar ruhig. Er kann hier durchatmen. Nur eine Sache bereitet ihm Sorgen: Seine Mutter Ourida weigert sich, zu begreifen, dass er nicht nach Marokko kommen will. Natürlich hat er ihr gesagt, dass er Paris entdecken möchte, aber das ignoriert sie, weil sie beschlossen hat, ihn zu verloben. Auf keinen Fall wird sie ihn einfach so auf der anderen Seite des Mittelmeers leben lassen, ohne ihn irgendwie an die Heimat zu binden. Sie weiß schließlich nur allzu gut, wie es bei den nçara, den »Nazarenern«, läuft: Diplom, Master und wenn der junge Mann sich erst einmal eingewöhnt hat, begegnet er einer Französin, heiratet und wird nie wieder gesehen. Und wieder ist einer fort … Ahmed hört mit Blick auf die Uhr zu. Irgendetwas im Bericht seines Cousins klingt falsch. Doch das ist im Augenblick nicht wichtig. In fünfzehn Minuten muss er gehen und Mohamed vorher noch erklären, dass sein ehemals beschauliches Leben inzwischen ziemlich bewegt ist.
»Hör zu, hier ist etwas ziemlich Schlimmes passiert. Meine Nachbarin von oben ist ermordet worden. Laura, du weißt schon. Ich habe mich immer um ihre Orchideen gekümmert.«
»Die Stewardess, die in dich verliebt war?«
Ahmeds Gesicht verfinstert sich.
»In mich verliebt? Ja, vielleicht. Aber woher weißt du das?«
»Ich glaube, das hat jeder außer dir gewusst. Sogar die Hausmeisterin wusste Bescheid – sie hat sogar einmal mit mir darüber gesprochen. Laura. Wie traurig! Sie war eine nette Frau, das konnte man sehen. Warum wurde sie umgebracht? Hat man den Mörder schon erwischt?«
»Niemand weiß, warum, und der Mörder läuft auch noch frei herum. Ich bin übrigens einer der Hauptverdächtigen, weil ich
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