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Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition)

Titel: Entfliehen kannst du nie: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karim Miské
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kannst, wäre das für die Untersuchung unendlich wichtig. Und nicht nur das – wir würden alle davon profitieren. Du und ich, wir arbeiten doch beide auf unsere Weise für die Gesellschaft, oder?«
    »Unter dem Aspekt habe ich die Sache noch nie betrachtet. Und ich wäre vermutlich auch nicht bereit, jemand anderem als dir in dieser Hinsicht nachzugeben. Okay, eins zu null für dich. Unser Freund Moktar betrachtete die Welt als in zwei unversöhnliche Hälften geteilt, nämlich in Moslems auf der einen und alle anderen auf der anderen Seite. Und wenn er von Moslems sprach, meinte er nur die Wahren und die Reinen. Für das weibliche Klinikpersonal war es manchmal wirklich schwierig. Wir durften ihn nicht berühren – nicht einmal versehentlich – und uns ihm auch nicht nähern. Das ist nicht sehr praktisch, wenn man jemanden behandeln oder ihm Medikamente verabreichen muss! Im Gespräch wurde er immer sofort aggressiv. Die Sache mit Anna hatte eindeutig Mordgedanken in ihm geweckt. Unablässig wiederholte er das Wort ›Schaitan‹. Manchmal, wenn eine von den Schwestern zu nah an ihm vorbeiging, begann er, Suren aus dem Koran zu rezitieren – allerdings in einem Tonfall, dass es einem eiskalt den Rücken hinunterlief. Aber er beruhigte sich bald wieder, denn er begriff, dass man ihn nicht laufen lassen würde, solange er sich so verhielt. Du weißt ja, wie es ist – und wir können einfach nicht alle hinter Schloss und Riegel behalten. Außerdem hatte er weder jemanden getötet noch verletzt, sondern lediglich bei sich zu Hause alles kurz und klein geschlagen. Irgendwann wurde er also entlassen, und seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.«
    »Wie lautete seine Diagnose?«
    Léna trinkt einen Schluck, atmet tief ein und blickt Jean gerade ins Gesicht.
    »Aber das behältst du für dich, ja?«
    »Léna, eine Frau musste sterben, und vielleicht bleibt es nicht bei dieser einen. Ich werde es nur Rachel und meinem Chef sagen. Solche Informationen darf ich ihnen nicht vorenthalten. Aber es wird nichts Schriftliches darüber geben.«
    »Rachel … Also gut, ich will ja weder eifersüchtig noch verantwortungslos sein. Degenerative paranoide Psychose. Die Krankheit ist unheilbar und verschlimmmert sich in der Regel. Es würde sicher ins Krankenbild passen, wenn er irgendwann zur Tat schreitet. Ich bin zwar kein Psychiater, aber wenn du mir den Mord beschreibst, könnte ich dir vermutlich sagen, ob es hinhaut.«
    »Okay.«
    Jean beschreibt die Inszenierung des Mordes an Laura. Der Braten, die Orchideen, der Balkon.
    »Ziemlich grotesk. Für mich klingt es allerdings eher nach dem Werk eines Perversen. Vom Gefühl her würde ich sagen, dass er, wenn er sie getötet hat – falls er es überhaupt war –, nicht für die Inszenierung verantwortlich ist. Ein bisschen wirkt es so, als wolle jemand, der ihn kennt, ihm den Schwarzen Peter zuschieben.«
    »Im Augenblick sieht es eher so aus, als wolle jemand Ahmed den Schwarzen Peter zuschustern.«
    »Ahmed? Also der war es bestimmt nicht. Das kann ich mit Sicherheit ausschließen. Wie Dr. Germain schon gesagt hat – er ist nicht der Typ dafür. Er ist weder pervers noch aggressiv, sondern eher ein Träumer, der in seiner eigenen Welt lebt und auf keinen Fall gefährlich ist. So, und jetzt machen wir Feierabend. Ich habe einen Bärenhunger – lass uns endlich etwas essen gehen. Wenn ich noch ein Glas mehr von diesem Zeug trinken muss, begehe ich eine Ordnungswidrigkeit, und du musst mir Handschellen anlegen.«
    Frech wie ein junges Mädchen vertieft sie ihren Blick in seine Augen. Jean schafft es, ihn auszuhalten, ohne rot zu werden.
    »Mit zwei Cola-Rum hast du die Ordnungswidrigkeit schon begangen. Und wenn du gesteigerten Wert darauf legst, können wir bei der Wache vorbeigehen und Handschellen holen.«
    Später wird der folgende Dialog stattfinden:
    Jean: Warum an diesem Abend?
    Léna: Weil du bereit warst.
    Jean: Woher wusstest du das?
    Léna: Weil ich eine Frau bin, die hinschaut.
    Aber das wird erst später passieren. Stunden, Monate oder Jahre später. In der Ewigkeit danach.

38
    Bintou, Aïcha, Alpha und Mourad. Bei Onur. Eigentlich fehlen nur noch Moktar, Ruben und Rébecca, um die guten alten Zeiten wieder aufleben zu lassen. Es ist Viertel vor elf am Abend. Sie sitzen an einem Tisch ganz hinten, weitab von den Touristen. Liebe und Schmerz liegen in der Luft. Seit so vielen Jahren schon verlaufen die Wege der Brüder getrennt von denen ihrer Schwestern,

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