Entführung des Großfürsten
unser beider Leben«, schloß sie leise.
Der zweite Teil ihrer kurzen, gefühlvollen Rede verdarb etwas den angenehmen Eindruck des Anfangs, dennoch war ich gerührt. Ich wollte den Druck ihrer Finger erwidern, aber das wäre vielleicht zu intim gewesen. So fuhren wir dahin, und ihre Hand berührte die meine.
Im Gegensatz zu Mademoiselle hatte ich kein großes Vertrauen zu Herrn Fandorins Edelmut. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, daß in kürzester Zeit die irdische Existenz Afanassi Sjukins enden würde, und zwar nicht still und unbemerkt, wie es nach der Logik meines Lebens zu erwarten war, sondern mit ungebührlichem Getöse. In Emilies Gesellschaft fand ich diesen Gedanken weniger abscheulich, worin sich zweifellos eine Eigenschaft äußerte, die ich bei anderen nicht ausstehen kann und stets in mir zu unterdrücken trachte – kleinmütige Selbstsucht.
Mittlerweile wurde das Atmen in dem dicht verschlossenen Wagen immer mühsamer. Schweißtropfen rannen mir übers Gesicht und in den Kragen. Das war unangenehm und kitzelte, aber ich konnte sie nicht wegwischen, denn dazu hätte ich meine Hand fortnehmen müssen. Mademoiselles Atem ging auch beschleunigt.
Plötzlich kam mir ein einfacher und schrecklicher Gedanke, der den Schweiß noch reichlicher fließen ließ. Ich versuchte, unauffällig, um Mademoiselle nicht zu erschrecken, den Deckel der Kugel zu ertasten und zu öffnen. Aber ein Knacken war doch zu hören.
»Was war das?« rief Mademoiselle. »Was war das für ein Geräusch?«
»Linds Plan ist einfacher und hinterhältiger, als Fandorin sich vorstellen kann«, sagte ich und schnappte nach Luft. »Ich nehme an, der Doktor hat befohlen, uns so lange in dieser vernagelten Kiste herumzufahren, bis wir verröchelt sind, um sich dann in aller Ruhe den ›Orlow‹ zu holen. Aber daraus wird nichts – ich aktiviere jetzt den Zünder. Solange ich bei Bewußtsein bin, halte ich die Bombe mit beiden Händen fest. Wenn mich jedoch die Kräfte verlassen, fällt die Kugel herunter …«
»Vous êtes fou!« rief Mademoiselle, nahm ihre Hand von der meinen und packte mich am Ellbogen. »Vous êtes fou! N’y pensez pas! Je compte les détours, nous sommes presque là! 23
»Zu spät, ich habe schon den Knopf gedrückt«, sagte ich und preßte die Kugel mit beiden Händen an mich.
Kurz darauf hielt die Kutsche wirklich.
»Also, Gott befohlen, nicht wahr?« flüsterte Emilie und bekreuzigte sich, aber nicht auf rechtgläubige, sondern auf katholische Art, von links nach rechts.
Der Wagenschlag wurde geöffnet, und ich blinzelte gegen das helle Licht. Niemand verband mir die Augen, und ich sah die abgeblätterte Wand einer kleinen Kapelle und hundert Schritte weiter die Zwiebel- und die Glockentürme eines großen altehrwürdigen Klosters. Auf den Tritt steigend, blickte ich mich nach allen Seiten um. Am Teich saßen Angler, und am Rand der nahen Grünanlage stand eine frisch belaubte knorrige Eiche, in deren Höhlung vermutlich derAgent Kussjakin saß. Mir wurde eine Spur leichter ums Herz, obwohl es gewiß nichts Gutes verhieß, daß uns nicht die Augen verbunden wurden – Lind hatte nicht die Absicht, uns am Leben zu lassen. Mademoiselle guckte mir über die Schulter, sah sich ebenfalls um – ach ja, man hatte ihr ja sonst die Augen verbunden. Macht nichts, Herr Doktor, dachte ich, wenn wir zugrunde gehen, dann zusammen mit Ihnen. Ich drückte die Kugel an die Brust.
Der Kutscher, der neben dem offenen Wagenschlag stand, faßte mich am Ellbogen: runtersteigen. Ich verzog das Gesicht – eine Mordskraft steckte in seinen stahlharten Fingern.
Die rostige Tür mit dem großen Vorhängeschloß öffnete sich vor uns, fast ohne zu quietschen.
Ich betrat einen halbdunklen Raum, der größer war, als ich von außen gedacht hatte, und erblickte ein paar Männer. Bevor ich sie genauer betrachten konnte, schloß sich die Tür hinter uns, aber das Licht schwand nicht gänzlich, war jedoch nicht mehr grau, sondern gelblich – an den Wänden hingen einige Öllampen.
Es waren vier Männer im Raum. Mir fiel vor allem ein grauhaariger dürrer Herr mit schmallippigem unrussischem Gesicht und Brille auf. Ob das Doktor Lind war? Zu seinen Seiten standen zwei breitschultrige Hünen, deren Gesichter im Schatten nicht zu erkennen waren, wahrscheinlich Leibwächter. Der vierte war der Kutscher, der uns gefolgt war und sich an die Tür lehnte, als wollte er uns den Rückzugsweg abschneiden.
Ein Leibwächter machte dem
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