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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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der Wand stand eine Truhe mit Lumpen darauf, und ich vermutete, daß der Junge dort gelegen hatte. Doch Fandorin lief in die entgegengesetzte Richtung.
    Stampfende Schritte entfernten sich rasch – es mußten drei oder vier Leute sein.
    Fandorin ergriff die Laterne, hob sie hoch, und wir sahen einen Durchgang in der Wand, der von einem Gitter versperrt war.
    Die Dunkelheit wurde von einem Lichtblitz erhellt, ein böses Pfeifen sauste durch die Luft, gefolgt von einem dumpfen Echo.
    »Hinter den Vorsprung!« schrie mir Fandorin zu und sprang zur Seite.
    »Emilie, leben Sie?« rief ich.
    Die Dunkelheit antwortete mit Emilies Stimme: »Es sind drei! Lind ist hier! Es ist …«
    Die Stimme ging in einen Schrei über. Ich stürzte zu dem Gitter und rüttelte daran, aber es war mit einem Vorhängeschloß zugesperrt.
    Fandorin zog mich mit aller Kraft am Ärmel – gerade rechtzeitig: aus dem unterirdischen Gang wurde wieder geschossen. Einer der Eisenstäbe barst unter einem Funkenregen, ein unsichtbarer Bolzen schlug in die Wand, Steinsplitter rieselten zu Boden.
    Von ferne hallten Männerstimmen, jemand stöhnte – die Frau oder das Kind.
    »Lind!« rief Fandorin laut auf französisch. »Hier spricht Fandorin! Ich habe den Stein! Der Austausch kann stattfinden! Ich tausche den ›Orlow‹ gegen die Frau und das Kind!«
    Wir hielten den Atem an. Stille – weder Stimmen noch Schritte. Hatte er uns gehört oder nicht?
    Fandorin riß die Hand hoch, die plötzlich einen kleinen schwarzen Revolver hielt, und schoß dreimal auf das Vorhängeschloß.
    Wieder sprühten Funken, doch das Schloß flog nicht ab.

 
    16. Mai
    Ich saß am Fluß, blickte stumpf auf die vorüberschwimmenden langen Flöße aus rauhen braunen Stämmen und wußte nicht, wer den Verstand verloren hatte: ich oder die mich umgebende Welt.
    Afanassi Sjukin stand außerhalb des Gesetzes? Er wurde von Polizei und Gendarmerie gesucht?
    Aber vielleicht war ich gar nicht Afanassi Sjukin, sondern jemand anders?
    Doch nein, die geballte Macht der ordnungserhaltenden Kräfte des Reiches war gegen Herrn Fandorin und mich mobilisiert. Der Grund dafür war nicht ein ungeheuerliches Mißverständnis, sondern unser verbrecherisches Verhalten. Ja, ja,
unser,
denn ich war freiwillig Fandorins Komplize geworden. Oder fast freiwillig.
    Ich mußte mir die Ereignisse der vergangenen Nacht in allen Einzelheiten ins Gedächtnis rufen.
     
    Als es uns endlich gelungen war, das Schloß aufzusprengen und in den Geheimgang zu gelangen, hatte es keinen Sinn mehr, Lind zu verfolgen. Aber das begriffen wir nicht gleich. Fandorin lief mit der Laterne voraus, ich hinter ihm her, leicht gebeugt, um mir nicht den Kopf an der niedrigen Gewölbedecke zu stoßen. Das flackernde Licht griff Spinnweben aus der Dunkelheit, irgendwelche Scherben am Boden, den feuchten Glanz der Lehmwände.
    Nach etwa zwanzig Schritten teilte sich der Gang. Fandorin hockte sich kurz hin, leuchtete den Boden ab und bog überzeugt nach rechts. Eine halbe Minute später teilte sich der Tunnel erneut. Nach dem Studium der Spuren, die auf der dicken Staubschicht deutlich zu sehen waren, nahmen wir den linken Weg. So brachten wir noch sieben oder acht Gabelungen hinter uns, dann war das Öl in der Laterne aufgebraucht, und wir saßen in der Finsternis fest.
    »Na wunderbar«, brummte Fandorin wütend. »Einfach wunderbar. Nicht nur, daß wir Lind nicht v-verfolgen können, wir finden auch nicht den Weg zurück. Wer konnte denn ahnen, daß das ein solches Labyrinth ist. Dreihundert Jahre haben sie hier gegraben, vielleicht auch l-länger: die Mönche in den Zeiten der Wirren, dann die aufständischen Strelitzen, dann die Raskolniki, welche die alten Schriften und das Kirchensilber vor dem Patriarchen Nikon versteckten; allem Anschein nach waren hier auch einmal Steinbrüche … Na schön, Sjukin, gehen wir aufs Geratewohl.«
    Es war stockdunkel, und wir kamen nur mühsam voran. Ich prallte gegen Vorsprünge und fiel ein paarmal hin. Beim erstenmal huschte unter mir piepsend etwas Lebendiges davon. Ich faßte mir ans Herz. Zu meiner Schande sei gesagt, daß ich eine unmännliche Schwäche habe – einen Horror vor Ratten und Mäusen. Dieses wuselnde, huschende, diebische Gezücht ist meiner Natur zutiefst zuwider.
    Beim zweitenmal blieb ich mit dem Fuß an etwas Wurzelähnlichem hängen, was sich beim Betasten als menschlicher Brustkorb erwies.
    Als ich zum drittenmal hinschlug, klirrte es unter mir. Ich griff in die

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