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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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und starrten einander gleichermaßen befremdet an. Meine seelische Hochstimmung war restlos verflogen. Der Mund wurde trocken in einem bösen Vorgefühl.
    Fandorin musterte mich von Kopf bis Fuß, als sehe er mich zum erstenmal, und fragte, wie mir schien, voller Neugier: »A-Aber Sjukin, lieben Sie den kleinen Mika denn nicht?«
    »Ich liebe ihn sehr«, antwortete ich und konnte mich über diese Frage nur wundern.
    »Und … Emilie ist Ihnen doch auch nicht gleichgültig?«
    Ich fühlte mich sehr müde, wir waren beide voller Staubund Lehm, es roch nach Gras und Fluß – alles zusammen gab mir das Gefühl, daß gewöhnliche Konventionen keine Bedeutung mehr besaßen. Nur deshalb antwortete ich auf eine so himmelschreiend indiskrete Frage.
    »Das Schicksal von Mademoiselle Déclic ist mir nicht gleichgültig.«
    »Also, auf dem Spiel steht das Leben zweier M-Menschen, die Sie … Nun, sagen wir, deren Schicksal Ihnen nicht gleichgültig ist. Und dann sind Sie bereit, diese Menschen wegen eines Stückchens geschliffenen Kohlenstoffs zu opfern?«
    »Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Liebe«, erwiderte ich leise und erinnerte mich plötzlich, daß Fandorin fast dasselbe vor ein paar Tagen zu Großfürstin Xenia gesagt hatte.
    Diese Erinnerung war mir unangenehm, und ich hielt es für nötig zu präzisieren: »Zum Beispiel Ehre. Treue. Das Prestige der Monarchie. Die nationalen Heiligtümer.«
    Ich kam mir albern vor, solche Binsenweisheiten von mir zu geben, aber was sollte ich tun?
    Nach einer Pause erklärte Fandorin: »Sjukin, Sie haben die Wahl. Sehen Sie die Polizeikette vor der Kapelle? Entweder Sie gehen dorthin und sagen, daß Fandorin untergetaucht ist und den ›Orlow‹ m-mitgenommen hat. Oder wir versuchen zusammen, Emilie und das Kind zu retten. Entscheiden Sie sich.«
    Mit diesen Worten zog er den schwarzen Bart und eine zottelige Perücke aus der Manteltasche – er hatte das Gestrüpp also aufgehoben –, klebte sich beides an, und schon hatte er sich in eines der menschenscheuen Bäuerlein verwandelt, die zum Broterwerb in die großen Städte kamen.
    Ich weiß nicht, warum ich bei ihm blieb. Wirklich, ich weiß es nicht. Ich sagte kein Wort, rührte mich aber auch nicht vom Fleck.
    »Also, werden wir zusammengekettet in die Zwangsarbeit gehen?« fragte Fandorin mit unangebrachter Heiterkeit und streckte mir die Hand hin.
    Sein Händedruck war kräftig, meiner lasch.
    »Bleiben Sie hier sitzen und s-stecken Sie den Kopf nicht zu sehr hinaus. Ich gehe auf Erkundung.«
    Er ging in Richtung Kloster, und ich kniete mich ans Wasser. Es war sauber und durchsichtig; ich trank mich zuerst satt und betrachtete dann, nachdem sich die Kräuselwellen geglättet hatten, mein Spiegelbild. Es schien sich nicht verändert zu haben: Schnurrbart, Backenbart, gewölbte Stirn mit beginnender Glatze, und dennoch war dies nicht das Gesicht des Hoffouriers Sjukin, des Haushofmeisters des Grünen Hauses und treuen Dieners der Krone, sondern das Gesicht eines Staatsverbrechers.
     
    Fandorins Rückkehr riß mich aus meiner traurigen Erstarrung, hellte meine Stimmung aber nicht auf.
    Er berichtete, daß Polizisten und Soldaten nicht nur die Kapelle umstellt hatten, sondern das gesamte Kloster. In dem unterirdischen Labyrinth lief schon seit vielen Stunden die Suche. Ein Schutzmann hatte ihm erzählt, daß an alle Polizeireviere der Steckbrief zweier gemeingefährlicher Täter verschickt worden war, die ein schweres Verbrechen verübt hatten. Die Ausfallstraßen von und nach Moskau waren gesperrt, und die Festnahme der Unholde war nur eine Frage der Zeit. Der eine war ein magerer, noch jugendlich aussehender brünetter Mann mit schmalem Schnurrbart; besondere Merkmale – weiße Schläfen und ein charakteristisches Stottern. Der andere – hier beschrieb Fandorin meine Wenigkeit, aber viel ausführlicher. So erfuhr ich, daß ich eine gespalteneKnorpelnase und im linken unteren Drittel der Wange eine Warze habe und daß meine Augen von sumpfgelber Farbe und mandelförmig geschnitten sind.
    »Wie haben Sie es geschafft, einen Polizisten zum Reden zu bringen?« wunderte ich mich. »Und außerdem, ist ihm Ihr Stottern nicht verdächtig vorgekommen?«
    »Um mit einem Unbekannten ins Gespräch zu kommen, muß man über Kenntnisse der P-psychologie und der Physiognomik verfügen«, erklärte Fandorin mit wichtiger Miene. »Was das Stottern angeht, so haben Sie vielleicht schon bemerkt, daß ich, wenn ich eine andere P-Person

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