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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Tasche – der »Orlow« war nicht mehr drin.
    Entsetzt schrie ich: »Der Stein ist weg!«
    Fandorin riß ein Streichholz an, und ich sah einen zersprungenen Tontopf, in dem ungleichmäßige kleine Scheiben matt blinkten. Ich nahm so eine Scheibe in die Hand – eine alte Silbermünze. Aber mir war jetzt nicht nach Münzen zumute. Wenn ich den Stein nun bei einem der vorigen Stürze verloren hatte? Dann konnten wir lange suchen.
    Zum Glück entdeckte Fandorin mit dem dritten Streichholz den halb in den Staub eingesunkenen Brillanten und nahm ihn an sich. Nach dem Vorgefallenen wagte ich nicht zu widersprechen. Ich schüttete mir zwei Handvoll Münzen aus dem Schatz in die Taschen, und wir trotteten weiter.
    Ich weiß nicht, wieviel Stunden vergingen. Hin und wieder setzten wir uns auf den Boden, um zu verschnaufen. Schon die zweite Nacht verbrachte ich unter der Erde, und ich vermag nicht zu sagen, welche mir unangenehmer war.
    Wir konnten nicht einmal auf die Uhr sehen, denn bald waren die Streichhölzer von der Feuchtigkeit aufgeweicht und wollten nicht mehr brennen. Als ich zum zweitenmal über dieselben Knochen stolperte, stand fest, daß wir im Kreis gegangen waren.
    Fandorin sagte: »Wissen Sie, Sjukin, so geht das nicht. Oder wollen Sie, daß die R-Ratten über Ihre Rippen laufen?«
    Ich fuhr zusammen.
    »Ich will das auch nicht. Also dürfen wir nicht länger aufs Geratewohl losmarschieren. Wir brauchen ein System. Jetzt machen wir es so: Wir gehen bei den G-Gabelungen einmal nach rechts und einmal nach links. Vorwärts!«
    Aber auch mit »System« gingen wir noch sehr lange, bis endlich in der Ferne schwaches Licht aufschimmerte. Ich lief als erster darauf zu. Der Gang verengte sich, wurde immer niedriger, und ich mußte auf allen vieren kriechen, doch das machtemir nichts, denn das Licht schien zunehmend heller. Kurz vor dem Ausgang griff ich nach einer kalten rauhen Wurzel, aber die schnellte plötzlich mit bösem Zischen aus meinen Fingern. Eine Schlange! Ich prallte zurück und stieß mir den Schädel an einem Stein. Da sah ich auf dem schmalen Kopf des davonschlängelnden schwarzen Bandes gelbe Flecke – eine harmlose Ringelnatter. Dennoch hämmerte das Herz wie verrückt.
    Die Höhle führte zum unterspülten Flußufer. Ich sah einen dunklen Lastkahn, in Morgennebel gehüllt, Dächer von Lagerhäusern am anderen Ufer und in einiger Entfernung die halbrunden Bögen einer Eisenbahnbrücke.
    »Wir sind nicht w-weit gekommen«, sagte Fandorin, richtete sich auf und klopfte seinen Kutscherkaftan ab. Den langen schwarzen Bart hatte er längst abgenommen und den breitkrempigen Hut wohl in der Gruft verloren.
    Ich folgte der Richtung seines Blicks. In einer Entfernung von ein paar hundert Schritten leuchteten, von den ersten Sonnenstrahlen überglänzt, die Kuppeln des Nowodewitschi-Klosters.
    »Offensichtlich haben die Mönche diesen Gang benutzt, um heimlich ans Ufer zu g-gelangen«, sagte Fandorin. »Zu welchem Zweck wohl?«
    Das interessierte mich nicht im geringsten.
    »Da ist ja auch die Kapelle!« Ich zeigte darauf. »Kommen Sie. Die Herren Karnowitsch und Lassowski haben uns sicherlich schon überall gesucht. Das heißt, weniger uns als den ›Orlow‹. Sie werden sich freuen!«
    Ich lächelte. Die Weite, das Licht, die morgendliche Frische verliehen mir in diesem Augenblick ein ganz besonderes Gefühl von Lebensfülle, wie es der von den Toten auferstandene Lazarus empfunden haben mag.
    »Sie wollen Karnowitsch den ›Orlow‹ zurückgeben?« fragte Fandorin ungläubig.
    Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu haben, aber dann begriff ich, daß Fandorin, ebenso erleichtert wie ich, daß die grauenhafte Nacht hinter uns lag, zu scherzen beliebte. Nun ja, es gibt Umstände, unter denen auch Sjukin nichts gegen ein Späßchen hat, selbst wenn der Gesprächspartner nicht der sympathischste ist.
    »Nein, ich möchte den Stein Doktor Lind bringen«, entgegnete ich und gab durch ein dezentes Lächeln zu verstehen, daß ich den Scherz zu würdigen wisse und im gleichen Ton antwortete.
    »Sehr richtig.« Fandorin nickte mit ernster Miene. »Sie wissen doch: Wenn wir den B-Brillanten den Behörden zurückgeben, sehen wir ihn nicht wieder. Dann sind der Junge und Emilie verloren.«
    Erst da ging mir auf, daß er überhaupt nicht scherzte.
    »Sie haben allen Ernstes die Absicht, Doktor Lind eigenmächtig einen Handel anzubieten?« fragte ich für alle Fälle nach.
    »Ja, was denn sonst?«
    Wir schwiegen

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