Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Stimmen antworteten fröhlich: »Keine Angst, Euer Wohlgeboren! Leute, haltet euch ran!«
    Eine Frau kreischte verzweifelt.
    Ich ertastete mit den Füßen die Erde und paßte mich der Bewegung der Menge an. Fandorin war nicht mehr neben mir, er war zur Seite abgedrängt worden. Ich stolperte über etwas Weiches und begriff nicht gleich, daß es ein Mensch war. Unter meinen Füßen schimmerte eine zertrampelte Soldatenbluse, aber dem am Boden Liegenden zu helfen war unmöglich – meine Arme waren eingekeilt.
    Dann trat ich immer häufiger auf Körper, und ich dachte nur noch eines: Bloß nicht hinfallen, dann kommst du nicht mehr auf die Beine. Links lief ein Mann über die Schultern und Köpfe der Masse, schwarze geteerte Stiefel glitten vorüber. Er schwankte, fuchtelte mit den Armen und stürzte ab.
    Mich trieb es auf die splitterige Ecke eines Bretterturms zu. Ich versuchte seitlich auszuweichen, aber vergeblich.
    »Nimm ihn!« wurde von rechts geschrien. »Nimm den Kleinen!«
    Ein vielleicht achtjähriger Junge wurde auf hochgestreckten Händen weitergereicht. Es starrte mit erschrocken aufgerissenen Augen nach allen Seiten und schniefte mit blutender Nase.
    Da wurde ich gegen die Wand geschleudert und schabte mit der Wange an frischen Holzsplittern entlang, so daß mir Tränen aus den Augen spritzten, stieß dann mit der Schläfe gegen eine geschnitzte Verkleidungsleiste und sank zusammen. Ich dachte noch: aus, vorbei, gleich zerquetschen sie dich.
    Jemand packte mich unter den Achseln und stellte mich mit einem Ruck auf die Beine. Fandorin. Ich war so benommen, daß ich mich über sein Erscheinen nicht wunderte.
    »Stützen Sie sich mit den Händen an der Wand ab!« rief er. »Sonst werden Sie zermalmt!«
    Er holte aus und schlug mit einem Fausthieb den Fensterrahmen nach innen. Dann umfaßte er mich und hievte mich mit unglaublicher Kraft hinauf, ich kletterte, vielmehr, flog über das Fensterbrett und krachte auf den Boden, der nach frischem Holz roch. Ringsum standen gleichmäßige Pyramiden aus Krönungsbechern. Auch Fandorin kletterte herein. Seine linke Braue war aufgeschlagen, die Uniform zerfetzt, der Säbel zur Hälfte aus der Scheide gerutscht.
    Waren wir etwa gerettet?
    Ich blickte aus dem Fenster und sah die wild gewordene Menge, die das ganze Feld einnahm. Schreie, Stöhnen, Knirschen, Gelächter – alles floß ineinander. Das waren mehr als hunderttausend Menschen, vielleicht eine Million! Infolge der Staubwolken glitzerte und waberte die Luft wie eine fette Bouillon.
    In die Nachbarbude waren auch Leute eingestiegen und warfen Becher und Säckchen mit Andenken aus dem Fenster. Sofort entbrannte darum eine Rauferei.
    »Herr, rette dein Volk«, brach es aus mir heraus, und die Hand schlug von selbst das Kreuz.
    »Worauf wartet ihr?« wurde uns von draußen zugerufen. »Werft die Becher raus! Ist Wodka da?«
    Der Turm begann zu knacken und zu knistern, von der Decke rieselte Mulm. Ich schrie vor Entsetzen, als ich sah, daß unsere zerbrechliche Zuflucht auseinanderfiel. Etwas krachte mir auf den Schädel, und ich verlor mit einiger Erleichterung das Bewußtsein.
     
    Ich weiß nicht, wer mich unter den Trümmern hervorzog und an einen sicheren Ort trug. Wahrscheinlich hatte ich meine Rettung abermals Fandorin zu verdanken, doch daran zu denken, ist mir unangenehm.
    Wie auch immer, ich kam auf einer Holztribüne am Rande des Chodynka-Feldes zu mir. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Ich versuchte mich aufzurichten, fiel aber gleich wieder zurück und stieß mit dem Hinterkopf gegen die harte Bank.
    Dann setzte ich mich doch auf und befühlte meinen dröhnenden Schädel, der mir ganz fremd vorkam. Ich ertastete eine mächtige Beule, aber im großen und ganzen war ich heil.
    Fandorin konnte ich nicht sehen. Ich war wie im Halbschlaf und wurde das metallische Geräusch in den Ohren nicht los.
    Als ich den Blick über das endlose Feld schweifen ließ, sah ich schiefe Buden und dichte Ketten von Soldaten, die langsam über das Gras gingen. Überall lagen Menschen: viele reglos, manche bewegten sich. Auf dieses Schlachtfeld zu blicken war qualvoll, in den Schläfen pochte es, und die grelle Sonne blendete die Augen. Mir sank der Kopf auf die gekreuzten Arme, und ich fiel in Schlaf oder Bewußtlosigkeit. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß, gegen die Wand der Tribüne gelehnt, aber als ich wieder erwachte, war es weit nach Mittag, und das Feld lag verlassen – keine Soldaten, keine reglos

Weitere Kostenlose Bücher