Entführung des Großfürsten
daliegenden Körper.
Der Kopf schmerzte weniger, dafür hatte ich großen Durst.
Ich blieb sitzen und überlegte träge, ob ich weggehen oder besser an Ort und Stelle bleiben sollte.
Ich blieb, und das war richtig, denn bald erschien Fandorin.
Er trug noch immer die Polizeiuniform, seine Stiefel waren voller Staub und die weißen Handschuhe von Erde geschwärzt.
»Sind Sie wieder bei Besinnung?« fragte er finster. »Mein Gott, Sjukin, was für ein Unglück. Etwas D-Derartiges habe ich nur bei Plewna gesehen. Tausende Tote und Verstümmelte. Das ist die schlimmste Untat Linds. Wie ein antiker Herrscher eine ganze Armee von Sklaven, so hat auch er Tausende mit ins Grab genommen.«
»Dann ist Lind tot?« fragte ich ohne besonderes Interesse, noch immer in schläfriger Benommenheit.
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie er die K-Katastrophe überlebt haben soll. Aber das werden wir gleich überprüfen. Die Soldaten und Polizisten haben die Toten zur Identifizierung dort an den Wegrand gelegt. Die Reihe der Leichen ist fast eine Werst lang. Aber wie sollen wir ihn identifizieren, wenn wir sein Gesicht nicht kennen? Höchstens nach dem Umhang … Gehen wir, Sjukin, gehen wir.«
Ich humpelte hinter ihm her.
Längs der Chaussee lagen wirklich in endloser Reihe die Toten, auf beiden Seiten, so weit das Auge reichte. Aus Moskau beorderte Mietdroschken und Leiterwagen bildeten eine Kette – die Toten sollten zum Wagankowo-Friedhof gebracht werden, aber noch war mit dem Abtransport nicht begonnen worden.
Überall gingen mit finsterer Miene Polizei-, Militär- und Zivilchefs umher, jeder begleitet von einer Suite. Ach, ihr alle werdet für den Mißerfolg der Krönungsfeier zur Verantwortung gezogen, dachte ich ohne Schadenfreude, eher mitleidig. Lind hatte das Massaker angerichtet, aber dafür geradestehen mußten die zuständigen Chargen.
Ich hatte, während ich langsam den Straßenrand entlangging, das seltsame Gefühl, ich wäre eine hochgestellte Person und nähme die Parade der Leichen ab. Viele grinsten mich mit weißen Zähnen aus völlig plattgequetschten Gesichtern an. War ich schon zu Anfang abgestumpft gewesen, so wurde ich bald völlig unempfindlich, und das war sicherlich gut. Nur einmal blieb ich stehen – bei dem kleinen Jungen, den man auf Händen aus dem Gedränge hatte tragen wollen, was aber nicht gelungen war. Mit dumpfem Interesse sah ich in das durchsichtige Blau seiner weit geöffneten Augen und humpelte weiter. Viele Menschen waren unterwegs, die den Toten, so wie wir, in die Gesichter blickten – die einen suchten Angehörige, andere waren einfach neugierig.
»Guck dir den an«, hörte ich. »Guck, der hat abgestaubt.«
Vor einem Toten stand ein Häuflein Gaffer, darunter auch ein Schutzmann. Der Tote war schmächtig, hatte strohblondes Haar und eine eingedrückte Nase, aber auf seiner Brust lagen ein Dutzend Geldbörsen und etliche an einer Kette aufgefädelte Uhren.
»Ein Taschendieb«, erklärte mir ein munteres altes Männlein und schnalzte mitleidig mit der Zunge. »Auch den Langfinger hat das Schicksal ereilt. Dabei versprach der Tag so reiche Beute.«
Vorn heulte jemand mit schrecklicher Stimme – offenbar hatte er einen Angehörigen erkannt, und ich ging rasch vorbei.
Nach etwa zwanzig Schritten war meine Lethargie wie weggeblasen. Die bekannte schwarze Mütze!
Ja, er war es, der Postler!
Fandorin hatte ihn auch erblickt, er kam rasch heran und hockte sich neben ihn.
Das Gesicht des Mannes war unversehrt, nur auf der Wange war ein Stiefelabdruck zu sehen. Mich frappierte der Ausdruck äußerster Verwunderung, der in seinen starren Zügen eingefroren war. Worüber mochte er im letzten Moment seines Verbrecherlebens so gestaunt haben? Was hatte er Unwahrscheinliches gesehen? Den sich auftuenden Höllenschlund?
Fandorin richtete sich abrupt auf und sagte heiser: »Lind lebt!«
Als er sah, daß meine Brauen verdutzt in die Höhe gingen, beugte er sich hinab, knöpfte das blutdurchtränkte Hemd des Toten auf und entblößte eine blasse behaarte Brust. Unter der linken Brustwarze war eine dreieckige kleine Wunde.
»Da haben wir’s«, murmelte Fandorin. »Die bekannte Spur. Linds Stilett. Der Doktor bleibt sich treu – er läßt keine Zeugen zurück.« Er stand auf und wandte den Kopf in Richtung Moskau. »Gehen wir, Sjukin, hier haben wir nichts mehr zu tun. Schnell!«
Mit raschen Schritten, fast laufend, eilte er davon in Richtung Petrowski-Schloß.
»Wo wollen Sie hin?«
Weitere Kostenlose Bücher