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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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erschrocken an und sah, daß er sich völlig verändert hatte: angespanntes Gesicht, konzentrierte Augen.
    Sollte dort wirklich Lind sein?
    Der eine war der Postler – ich erkannte ihn an der Figur und der Mütze. Der zweite war von mittlerer Größe, trug einen langen, über die Schultern geworfenen Almaviva-Umhang und einen Kalabreser mit tief herabhängender Krempe.
    »Die zweite«, flüsterte Fandorin und quetschte schmerzhaft meinen Ellbogen.
    »Wie? Was?« stammelte ich.
    »Die zweite Variante. Lind ist hier, und die Geiseln sind woanders.«
    »Sind Sie sicher, daß es Lind ist?«
    »Ganz sicher. Dieselben sparsamen und zugleich eleganten Bewegungen. Die Art, wie er den Hut trägt. Und dann der Gang. Er ist es.«
    Ich fragte nicht ohne Zittern in der Stimme: »Nehmen wir ihn fest?«
    »Sie haben alles vergessen, Sjukin. Festnehmen könnten wirihn, wenn er mit den Geiseln herausgekommen wäre, bei der ersten Variante. Das hier ist aber die zweite. Wir folgen dem Doktor, er wird uns zu dem Jungen und zu Emilie führen.«
    »Und wenn …«
    Fandorin preßte mir die Hand auf den Mund – der Mann mit dem Umhang hatte sich umgeblickt, obwohl wir flüsterten und er uns nicht hören konnte.
    Ärgerlich schob ich Fandorins Hand weg und stellte trotzdem meine Frage: »Und wenn sie überhaupt nicht zu den Geiseln gehen?«
    »Es ist fünf nach drei«, antwortete er völlig unpassend.
    »Ich habe Sie nicht nach der Uhrzeit gefragt«, sagte ich wütend. »Sie machen mich dauernd zum …«
    »Haben Sie etwa vergessen«, unterbrach er mich, »daß wir um vier mit dem Doktor verabredet sind? Wenn Lind pünktlich sein will, muß er jetzt die Gefangenen holen und sie zu dem Platz vor dem P-Petrowski-Schloß bringen.«
    Da er wieder stotterte, hatte seine Anspannung wohl nachgelassen. Auch ich hörte plötzlich auf zu zittern und war auch nicht mehr wütend.
    Kaum waren Lind (wenn er es denn wirklich war) und der Postler um die Ecke gebogen, stiegen wir über den Zaun. Ich dachte flüchtig, daß ich nie zuvor, nicht einmal als Kind, so oft über Zäune geklettert war wie in den letzten Tagen mit Herrn Fandorin. Zu Recht heißt es im Volk: Mit wem einer umgeht, des Sitten nimmt er an.
    »Setzen Sie sich in die Droschke und fahren Sie langsam hinter mir her«, instruierte mich Fandorin im Gehen. »Vor jeder Kreuzung steigen Sie aus und g-gucken vorsichtig um die Ecke. Ich werde Ihnen ein Zeichen geben – einzubiegen oder zu warten.«
    Auf diese Weise erreichten wir den Boulevard, wo uns Fandorin plötzlich heranwinkte.
    »Sie haben eine Droschke genommen und fahren zur Sretenka«, teilte er mit und setzte sich neben mich. »Fahr der Droschke hinterher«, sagte er zu dem Kutscher, »aber nicht zu dicht.«
    Ziemlich lange fuhren wir die Boulevards entlang, mal steil bergab, mal bergan. Trotz nachtschlafender Zeit waren die Straßen nicht leer. Auf den Trottoirs gingen Grüppchen von Passanten und unterhielten sich lebhaft, und ein paarmal überholten uns Equipagen. In Petersburg macht man sich gern über die alte Hauptstadt lustig, die angeblich bei Sonnenuntergang zu Bett geht, aber nun zeigte sich, daß das überhaupt nicht stimmt. Um vier Uhr morgens sind nicht einmal auf dem Newski-Prospekt so viele Menschen unterwegs.
    Wir fuhren immer geradeaus und bogen nur einmal ab, vor dem Puschkin-Denkmal – in eine große Straße, die ich sofort erkannte, die Twerskaja. Von dort bis zum Petrowski-Schloß waren es noch drei, vier Werst. Denselben Weg, nur in umgekehrter Richtung, hatte die allerhöchste Prozession beim feierlichen Einzug in die alte Hauptstadt genommen.
    Auf der Twerskaja waren noch mehr Menschen und Equipagen unterwegs, und alle bewegten sich in dieselbe Richtung wie wir.
    Das kam mir sehr seltsam vor, aber ich dachte an etwas ganz anderes.
    »Hören Sie, ich glaube, die fahren geradewegs zum Treffpunkt«, platzte ich schließlich heraus.
    Fandorin schwieg. Im trüben Licht der Gaslaternen wirkte sein Gesicht weiß und leblos.
    »Vielleicht hat Lind doch noch Komplizen, und die Geiseln werden d-direkt zur verabredeten Stelle gebracht?« sagte er nach einer langen Pause, doch ohne die sonstige Selbstgewißheit.
    »Und wenn er sie schon …« Ich konnte den schrecklichen Gedanken nicht aussprechen.
    Fandorin antwortete leise, aber so, daß ich Gänsehaut bekam: »Dann bleibt uns zumindest Lind.«
    Hinter dem Triumph-Tor und dem Alexander-Bahnhof verschmolzen die einzelnen Gruppen der Passanten zu einem Strom, der die

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