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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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ganze Fahrbahn einnahm, und unser Pferd verfiel in Schritt. Linds Droschke kam allerdings auch nicht schneller voran – ich sah die ganze Zeit die beiden Kopfbedeckungen vor uns – den herabhängenden Hut des Doktors und die Mütze des Postlers.
    »Mein Gott, heute ist doch der Achtzehnte!« Ich hüpfte auf dem Sitz hoch, als mir einfiel, was für ein Datum das war. »Herr Fandorin, aus unserem Treffen wird nichts! Über all den Aufregungen habe ich völlig den Krönungskalender vergessen! Am Sonnabend, dem achtzehnten Mai, soll doch gegenüber vom Petrowski-Schloß das Volksfest stattfinden, auf dem auch Andenken verteilt werden. Von wegen einsamer Ort! Dort sind jetzt vielleicht hunderttausend Menschen!«
    »Verdammt!« fluchte Fandorin nervös. »Das war mir entfallen. Ich habe ja auch nicht geglaubt, daß das Treffen zustande kommt, darum habe ich das erstbeste hingeschrieben, das mir in den Kopf kam. Eine unverzeihliche Fahrlässigkeit!«
    Von allen Seiten tönten aufgekratzte, teilweise auch angesäuselte Stimmen und fröhliches Gelächter. Es waren zumeist ganz einfache Leute. Verständlich, denn Bessergestellte warenmit kostenlosen Kringeln und heißen Getränken nicht zu locken, und wenn sie sich aus Neugier einfanden, dann auf den Tribünen, für die man Karten haben mußte. Bei der letzten Krönung sollen dreihunderttausend Menschen zu der Volksbelustigung herbeigeströmt sein, diesmal würden bestimmt noch mehr kommen.
    »Ist es wahr, Herr Polizist, daß jeder einen Zinnbecher mit Adlerwappen geschenkt bekommt, voll gefüllt bis zum Rand?« fragte der Kutscher und wandte uns sein aufgelebtes rundes Gesicht zu. Die festliche Stimmung der Menge hatte offenbar auch ihn angesteckt.
    »Halt«, befahl Fandorin.
    Ich sah, daß auch Linds Droschke angehalten hatte, obwohl es bis zur Abbiegung zum Petrowski-Schloß noch ein ganzes Stück war.
    »Sie steigen aus!« rief ich.
    Fandorin gab dem Kutscher einen Schein, und wir bahnten uns durch die Menge einen Weg nach vorn.
    Es war dunkel, obwohl der Halbmond durch die Wolken schimmerte. Darum beschlossen wir, uns näher heranzupirschen, so auf zehn Schritt. Auf dem Feld zu beiden Seiten des Wegs brannten Feuer hinter den Büschen, so daß die beiden Silhouetten, die eine größer, die andere kleiner, deutlich zu sehen waren.
    »Bloß nicht aus den Augen verlieren«, wiederholte ich wie eine Beschwörung.
    In diesen Minuten dachte ich nicht an den Großfürsten und nicht an Mademoiselle Déclic. Ein mächtiger Urinstinkt, der kein Mitleid kannte und stärker als Angst war, ließ das Herz rasch, aber gleichmäßig schlagen. Ich hatte nie die Wonnen der Jagd verstanden, aber jetzt dachte ich plötzlich:Wahrscheinlich empfinden Jagdhunde etwas Ähnliches, wenn sie an der Leine zerren, um den Wolf zu hetzen.
    Inzwischen herrschte ein Gedränge wie in der Stoßzeit auf dem Newski. Mitunter mußten wir die Ellbogen zu Hilfe nehmen. Vor mir ging ein Hüne von einem Fabrikarbeiter und versperrte mir die Sicht. Ich schlüpfte unter seinem Arm hindurch, drängelte weiter und stöhnte plötzlich vor Entsetzen auf. Lind und der Postler waren verschwunden!
    Verzweifelt sah ich mich nach Fandorin um. Der reckte sich zu seiner vollen Größe, stellte sich wohl sogar auf die Zehenspitzen und hielt Ausschau.
    »Was nun?« rief ich. »Mein Gott, was nun?«
    »Sie nach rechts, ich nach links«, befahl er.
    Ich stürzte zum Straßenrand. Im Gras saßen Menschen in größeren und kleineren Gruppen beisammen. Andere strichen ziellos zwischen den Bäumen umher, in der Ferne wurde unharmonisch im Chor gesungen. Auf meiner Seite war Lind nicht. Ich rannte zurück auf den Weg und stieß mit Fandorin zusammen, der mir entgegenkam.
    »Wir haben sie verloren«, sagte ich.
    Alles war aus. Ich schlug die Hände vors Gesicht, um nicht die Menschen, die Feuer und den dunkelgrauen Himmel sehen zu müssen.
    »Nicht aufgeben, Sjukin. Dort ist der Platz, wo das Treffen stattfinden soll. Wir werden herumgehen, suchen und den Sonnenaufgang abwarten. Lind hat keine Wahl! Er braucht uns genauso wie wir ihn.«
    Er hatte recht, und ich versuchte, mich zusammenzunehmen und zu konzentrieren.
    »Der Stein«, sagte ich beunruhigt. »Haben Sie ihn auch nicht verloren?«
    »Nein, er ist hier.« Fandorin klopfte sich gegen die Brust.
    Wir wurden von allen Seiten angerempelt, und er faßte mich unter.
    »Sjukin, Sie schauen nach rechts, ich nach links. Wir gehen langsam. Wenn Sie die b-beiden sehen, dann schreien

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