Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
er den Zeitungsjungen ausfindig gemacht hatte, wirkte bei näherer Betrachtung recht zweifelhaft. Angenommen, Fandorin hatte wirklich überdurchschnittliche Findigkeit bewiesen und den kleinen Taugenichts aufgespürt. Weshalb hatte er ihn dann laufenlassen? Wenn der Junge nun etwas verheimlicht oder überhauptgelogen hatte und dann zu Lind gelaufen war, um ihm alles zu berichten?
    Zweitens. Warum hatte Fandorin der Gouvernante davon abgeraten, die Weisungen der Polizei zu befolgen, und ihr empfohlen, sich auf den eigenen Verstand zu verlassen? Da hatte Lassowski wirklich einen feinen Berater!
    Drittens. Wenn ihm der Plan des Polizeipräsidenten so mißfiel, warum hatte er das nicht auf der Beratung gesagt?
    Viertens. Warum war er, nachdem er sich von Mademoiselle verabschiedet hatte, so rasch davongeeilt? Was hatte er vor, wenn er an der Operation gar nicht beteiligt war? Wieder so einen Trick wie gestern?
    Und fünftens, das Wichtigste. Hatte er über seine Beziehungen zu Lind die Wahrheit gesagt? Da war ich mir auch nicht sicher.
    Dieser letzte Gedanke im Verein mit dem Schuldgefühl gegenüber Mademoiselle, die jetzt aufgrund meines Versagens dem Risiko ausgesetzt war, bewog mich zu einem Schritt, der einmalig in meinem Leben war. Ich hätte nie gedacht, daß ich zu so etwas imstande sein könnte.
    Ich trat zu Fandorins Tür, blickte mich nach allen Seiten um und beugte mich hinab zum Schlüsselloch. Das war eine sehr unbequeme Haltung zum Schauen, und bald taten mir der Rücken und die Knie weh. Doch im Zimmer ging derartiges vor, daß kleine Unannehmlichkeiten jegliche Bedeutung verloren.
    Beide waren im Zimmer – Herr und Diener. Fandorin saß, bis zum Gürtel nackt, vor dem Spiegel und nahm unverständliche Manipulationen an seinem Gesicht vor. Mir schien, daß er sich schminkte, wie es jeden Morgen Mr. Carr bei offener Tür tat und ohne sich vor dem Diener zu genieren.Masa konnte ich in dem begrenzten Blickfeld nicht sehen, aber ich hörte sein Schnaufen in unmittelbarer Nähe der Tür.
    Dann streckte Fandorin, ohne aufzustehen, die Hand aus, zog sich ein Russenhemd von himbeerroter Seide über den Kopf und stand auf. Ich sah ihn nicht mehr, hörte aber ein Knarren und Stampfen, als ziehe sich jemand Schmierstiefel an.
    Wozu diese Maskerade? Was ging hier vor?
    Ich war so gefesselt, daß ich alle Wachsamkeit verlor, und als ich hinter mir leises Hüsteln hörte, wäre ich fast mit dem Kopf gegen die Tür geknallt.
    Somow! Ach, wie peinlich.
    Mein Gehilfe sah mich mit unbeschreiblicher Verwunderung an. Das war doppelt unangenehm, weil ich ihn erst am Morgen für unschickliches Betragen gerüffelt hatte: Ich war vor dem Frühstück durch den Korridor gegangen und hatte ihn aus Mademoiselles Zimmer kommen sehen, wo er rein gar nichts zu suchen hatte. Auf meine strenge Frage hatte er errötend erklärt, daß er morgens im Selbststudium Französisch lerne und die Gouvernante gebeten habe, ihm eine schwierige Stelle im Lehrbuch zu erklären. Dafür hatte ich ihn gerügt und ihm gesagt, daß ich zwar nichts dagegen hätte, wenn das Personal Fremdsprachen lerne, doch Mademoiselle sei angestellt, um Seine Hoheit zu unterrichten, nicht die Dienerschaft. Mir schien, daß Somow eingeschnappt war, wenngleich er natürlich nicht aufzumucken wagte. Und nun das!
    »Die Türklinken und Schlüssellöcher sind nicht ordentlich geputzt«, sagte ich. »Da, sehen Sie selbst.«
    Ich hockte mich hin und hauchte auf die Messingklinke, und auf der getrübten Oberfläche waren zum Glück Fingerabdrücke zu sehen.
    »Jemand braucht nur einmal die Klinke anzufassen, schonbleibt ein Abdruck zurück. Solche Lappalien bemerkt doch kein Mensch, Afanassi Stepanowitsch!«
    »In unserem Beruf, Kornej Selifanowitsch, gibt es keine Lappalien. Das sollten Sie sich klarmachen, bevor Sie darangehen, die französische Sprache zu erlernen«, sagte ich mit etwas übertriebener, doch durch die Umstände gerechtfertigter Strenge. »Seien Sie so gut und überprüfen Sie alle Türen. Fangen Sie in der oberen Etage an.«
    Als er sich entfernt hatte, beugte ich mich wieder zum Schlüsselloch, aber das Zimmer war leer, ein Fensterflügel bewegte sich sacht.
    Ich zog den Hauptschlüssel hervor, der zu allen Türen des Hauses paßte, schloß auf und lief ans Fenster.
    Gerade noch rechtzeitig, um zwei Gestalten zu sehen, die in den Büschen verschwanden: die eine groß, mit schwarzer Jacke und Schirmmütze, die andere gedrungen, in einem dunkelblauen Chalat und

Weitere Kostenlose Bücher