Entführung des Großfürsten
erschütterte mich, wie gut der Verbrecher über das coffret Ihrer Majestät unterrichtet war. Das kleine Brillantbouquet war eine wahre Zierde der Kronjuwelen; seinerzeit hatte die Braut des künftigen Zaren Paul I. es als Mitgift in die Ehe eingebracht. Dieses Meisterwerk der großen Juwelierkunst des 18. Jahrhunderts bestach weniger durch Größe und Reinheit der Steine als durch Schönheit und Eleganz. Für meinen Geschmack gab es im Brillantenzimmer keine erlesenere Kostbarkeit.
»Mein Gott, die arme Alice«, sagte der Zar bekümmert. »Sie leidet schon so unter dem Verlust der Saphirschleife.«
Seine Majestät war zu bedauern, besonders wenn man den Charakter der Zarin in Betracht zog, aber in diesem Moment war ich außerstande, für jemand anderen als den kleinen Großfürsten Mitleid zu empfinden.
»Wir haben uns schon ausgetauscht, Fandorin«, unterbrach Großfürst Kirill den Zaren ziemlich unhöflich. »Wie ist Ihre Meinung? Nun hat sich gezeigt, daß Sie recht hatten. Lind ist wirklich ein Ungeheuer, er macht vor nichts halt. Was sollen wir tun?«
»Ach, der arme Mika.« Der Zar senkte traurig den Kopf.
»Mika ist natürlich schlimm dran.« Großfürst Simeon schlug mit der Faust auf den Tisch. »Aber du solltest dich selbst bedauern, Nicky. Wenn die Welt erfährt, daß irgendein Lump während der Krönungsfeierlichkeiten den Cousin des russischen Zaren entführt hat und ihn in Stücke schneidet wie eine Wurst …«
»Sam, besinn dich!« brüllte mit Donnerstimme Großfürst Georgi. »Du redest vom Schicksal meines Sohnes!«
»Ich rede vom Schicksal unserer Dynastie!« antwortete ihm im gleichen Ton der Generalgouverneur.
»Onkel Sam, Onkel Georgie!« Seine Majestät hob versöhnlich die Hände. »Hören wir Herrn Fandorin an.«
Fandorin nahm die Tüte vom Tisch und drehte sie hin und her.
»Wie wurde sie z-zugestellt?«
»Wie die vorigen Sendungen«, sagte Großfürst Kirill. »Mit der Post.«
»Und wieder kein Stempel«, sagte Fandorin nachdenklich. »Wurde der Postbote befragt?«
Oberst Karnowitsch antwortete: »Nicht nur befragt. Alle drei Postboten, die abwechselnd die Stadtpost in die Eremitage bringen, werden beschattet, schon seit gestern abend. Es wurde nichts Verdächtiges festgestellt. Außerdem lassen verkleidete Agenten die Taschen mit den Postsendungen, die vom städtischen Postamt in die hiesige Filiale geschickt werden, keinen Moment aus den Augen. Kein Unbefugter konnte sich der Tasche nähern, weder auf dem Weg zur Postfiliale noch später, als der Briefträger die Post austrug. Wie Linds Sendung in die Tasche gekommen ist, bleibt unerklärlich. Ein Rätsel.«
»Solange wir das nicht gelöst haben, müssen wir folgendermaßenvorgehen«, sagte Fandorin finster. »Das Bouquet übergeben. Erstens. Keinerlei Beschattung von Linds Leuten. Zweitens. Wir können nur auf Mademoiselle Déclics Beobachtungsgabe hoffen, die zum Glück sehr gut ist. Drittens. Mehr kann ich nicht e-empfehlen. Die kleinste Unvorsichtigkeit seitens der Polizei, und Sie erhalten nicht das Ohr, sondern die Leiche des Jungen, zusammen mit einem weltweiten Skandal. Lind ist ganz offensichtlich außer sich vor Wut.«
Alle blickten wie auf Verabredung die Gouvernante an. Sie weinte nicht mehr und hatte die Hände vom Gesicht genommen. Es wirkte erstarrt, wie aus weißem Marmor gehauen.
»Je ferai tout mon possible« 15 , sagte sie leise.
»Ja, ja«, sagte der Zar bittend. »Tun Sie Ihr Möglichstes. Alice und ich werden zum Allerhöchsten beten. Und wir werden unverzüglich mit den Fasten beginnen. Wie es seit alters Brauch ist vor einer Krönung …«
»Ausgezeichnet, jeder leistet den in seinen Kräften stehenden Beitrag.« Großfürst Kirill lachte bärbeißig auf. »Oberst Lassowski ist von der Leitung der Ermittlung zu entbinden.« (Darauf hickste der Polizeipräsident noch lauter als zuvor, entschuldigte sich jedoch nicht mehr.) »Die Verantwortung wird wieder Ihnen übertragen, Karnowitsch, aber keine Unüberlegtheiten. Es wird so gemacht, wie Fandorin gesagt hat. Karnowitsch, Sie werden vorübergehend in die Eremitage übersiedeln und die Ermittlung von hier leiten. Im Alexandra-Schloß gibt es zu viele Besucher. Sjukin, mach für den Oberst ein Zimmer zurecht und laß ein Telephon hineinlegen. Das ist alles, gehen wir. Uns steht allen einschwerer Tag bevor. Nicky, du hast die Gesandten zu empfangen. Da mußt du dich tadellos halten.«
Nach der Abfahrt der hohen Gäste servierte ich meiner
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