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Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koppel Hans
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solchen Leidenschaft, dass sie anschließend beide lachen mussten. Sie nahmen sich an den Händen, flochten die Finger ineinander und gingen unter dem hohen Laubdach der Buchen fast wie durch eine Kirche weiter Richtung Kulla Gunnarstorp. Hinter dem roten Forsthaus öffneten sich auf beiden Seiten des Pfades Wiesen, und sie ließen sich los.
    »Findest du es unpassend?«, fragte Nour.
    »Was meinst du?«
    Sie zuckte mit den Achseln.
    »Vielleicht hast du ja das Gefühl, noch etwas länger Schwarz tragen zu müssen.«
    Mike warf ihr einen raschen Blick zu.
    »Sie kommt nicht zurück«, sagte er.
    Sie folgten dem Weg. Pferde weideten auf den Wiesen, und ein südlicher Wind blies Schaumkronen auf die Wellen des Sundes.
    »Eigentlich bist du gar nicht mein Typ«, sagte Nour. »Als du Ylvas Mann warst, hätte ich mir das hier gar nicht vorstellen können. Aber jetzt würde ich am liebsten auf der Stelle mit dir über den Elektrozaun springen und mitten
auf der Wiese mit dir schlafen. Alle Nachbarn könnten um uns herumstehen und glotzen, und ich würde keinen Gedanken daran verschwenden.«
    Mike nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zärtlich. Dann ließ er seine Hände über ihren Rücken wandern und hielt sie fest. Sie standen mitten auf dem Weg und wiegten sich im Takt hin und her. Ein älteres Paar näherte sich von Norden, aber Mike unternahm keine Anstalten beiseitezutreten. Erst als er sah, wer sich näherte, machte er sich vorsichtig frei.
    »Das ist Nour«, sagte Mike. »Und das sind Gösta und Marianne Lundin. Sie wohnen gegenüber am Sundsliden.«
    Sie gaben sich die Hand.
    »Wo ist denn Ihre Tochter?«, fragte Marianne.
    »Sanna?«, fragte Mike. »Sie ist mit meiner Mutter in Dänemark. Sie wollten in den Zehn-Kronen-Laden.«
    Marianne verstand nicht.
    »Dort kostet alles nur zehn Kronen«, erklärte Mike. »Oder zwanzig. Die Inflation hat vor dem Ursprungskonzept nicht haltgemacht.«
    Marianne nickte zustimmend. Als sei Shopping eine geeignete Aktivität für ein Mädchen in Sannas Alter. Mike und Nour verabschiedeten sich von dem Paar und gingen Richtung Schloss weiter.
    »Bei Gösta Lundin bin ich in Behandlung«, sagte Mike. »Das ist der Psychologe, von dem ich dir erzählt habe. Ohne ihn wäre ich niemals so weit, wie ich heute bin.«

43. KAPITEL
    Mike war auf dem Weg ins Krankenhaus zu einer weiteren Sitzung bei Gösta. Er wusste jetzt schon, dass es ihm besser gehen würde, wenn er sich eine gute Stunde später wieder verabschiedete. Gösta hatte ihm den Glauben an das Leben zurückgegeben und ihm das Gefühl vermittelt, dass alles möglich war.
    Dieses Gefühl war zwar flüchtig und verblich rasch in dem grauen und anstrengenden Alltag, trotzdem war es so, als käme mit jedem Besuch ein bisschen mehr Licht in das schlimmste Dunkel.
    Er ging nicht mehr so oft. Gösta fand, andere könnten seine Hilfe besser gebrauchen.
    »Wenn man bedenkt, was Sie durchgemacht haben, dann sind Sie ungewöhnlich gesund«, hatte er gesagt, den festen Termin gestrichen und war dazu übergegangen, Mike bei jedem Treffen einen neuen Termin zu geben.
    Inzwischen sahen sie sich nur noch jede dritte oder vierte Woche, und es kam vor, dass sie eine Sitzung verplauderten, statt sich düsteren Gedanken hinzugeben.
    Mike bewunderte Gösta. Abgesehen von seinen beruflichen
Fähigkeiten und seiner klugen Distanz zu den Kümmernissen des Lebens, war er ein Vorbild. Gösta hatte seine Tochter verloren, er hatte sein einziges Kind überlebt. Annika, so hatte seine Tochter geheißen, wäre jetzt genauso alt wie Ylva.
    Mike hatte sehr viel darüber nachgedacht. Er mochte sich den Schmerz gar nicht vorstellen, den es mit sich brachte, sein einziges Kind zu überleben. Er konnte sich ein Leben ohne Sanna nicht vorstellen. Und er wollte sich das auch gar nicht vorstellen, schob den Gedanken weg, bevor er sich festsetzen konnte.
    Zwanzig Jahre hatte Gösta durchgehalten, war zur Arbeit gegangen, hatte sich den Kummer anderer angehört und versucht, Lösungen zu finden. Er war nicht zum Alkoholiker geworden, nicht verbittert oder zynisch. Gösta und seine Frau waren zusammengeblieben, sie hatten sich gegenseitig geholfen und waren auf irgendeine wunderbare Weise darüber hinweggekommen.
    Florida-Rentner.
    Mike überlegte, ob ein Umzug auch eine Methode war, schwere Erlebnisse zu bewältigen – die Chance für einen Neuanfang. Dann war es nur seltsam, dass sie mit dem Aufbruch zwanzig Jahre gewartet hatten, aber vielleicht hatten

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