Entfuhrt
Projekt wissen, da das Thema einigermaßen heikel sei.
Calle schlug vor, nach einigen einleitenden Reportagen so schnell wie möglich auf Leservorschläge umzusteigen, also nicht auf Dauer selber aktiv zu suchen oder die Todesanzeigen zu filzen. Die Verstorbenen sollten von einem Angehörigen beschrieben werden, was unterschiedliche Perspektiven gewährleistete. Es könne um die Trauer um einen Ehepartner gehen, um ein Kind, Vater oder Mutter, eine Schwester oder einen Bruder, Freund oder Freundin. Die Artikel sollten in möglichst objektivem Ton gehalten sein, da das im Kontrast zu dem erschütternden Inhalt die Gefühle in der Regel noch verstärkte. Jede Reportage
sollte aus einer kurzen Lebensbeschreibung bestehen, einer detaillierten Beschreibung der Todesursache, aus den schönsten Erinnerungen des Befragten an den Verstorbenen und aus unterhaltsamen Details aus dessen Leben. Alles, was in traditionellen Nachrufen keinen Platz fand oder als unpassend erachtet wurde.
»Ich will, dass der Leser die Zeitung mit dem Gefühl beiseitelegt, dass ihm ein Schicksalsschlag jederzeit eine geliebte Person rauben kann«, meinte Calle. »Man soll das Bedürfnis verspüren, die eigene Familie besonders innig zu umarmen.«
Die Redaktionschefin musterte ihn forschend, ob er das vielleicht ironisch meinte. Als sie sich sicher war, dass er es ernst meinte, nickte sie.
»Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen?«, fragte sie.
Calle erzählte von der Viererbande, den Quälgeistern aus der Schulzeit, die einer nach dem anderen ins Gras gebissen hatten. Jetzt sei nur noch eine übrig.
»Sie und ihr Mann wohnen übrigens hier in Helsingborg. Ich dachte, ich suche sie nachher auf und befrage sie.«
Calle hatte ihren neuen Nachnamen über die Meldebehörde in Erfahrung gebracht. Die Adresse und den Vornamen ihres Mannes hatte er im Telefonbuch gefunden.
»Für die Serie?«, fragte die Redaktionschefin entsetzt.
Calle war klar, dass weder Quälgeister noch gewaltsame Todesfälle besonders weit oben auf der Liste ihrer Wunschreportagen standen. Sie sah ihn mit frischem Misstrauen an.
»Nein, nein«, versicherte Calle. »Ich bin nur neugierig. Das ist doch schon auffällig: drei von vieren. Haben sie gefährlicher gelebt? Haben sie das Schicksal herausgefordert? Es geht nicht wirklich um eine Reportageidee, ich dachte nur einfach, es wäre nett, sie einmal wiederzutreffen. Nach all den Jahren. Das letzte Treffen ist lange her.«
Er versuchte es mit einem Lächeln, aber die Redaktionschefin war immer noch skeptisch. Wer wollte schon freiwillig die Leute treffen, die einem in der Schule das Leben zur Hölle gemacht hatten?
»Sie wohnt etwas außerhalb«, fuhr Calle fort, um die peinliche Stille zu überbrücken. »Hittarp oder so ähnlich.«
»Da wohne ich auch«, sagte die Redaktionschefin. »Wie heißt sie?«
»Ylva«, sagte Calle. »Verheiratet mit Mike Zetterberg.«
Die Redaktionschefin sah ihn entsetzt an.
Irgendetwas stimmte hier nicht, so viel war Calle klar. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
45. KAPITEL
Calle saß in einem gelben Bus auf dem Weg ins Zentrum von Helsingborg. Es fiel ihm schwer, zu schlucken, sein Gesicht glühte, und er dachte an seinen Freund mit dem Geld, an Jörgen Petersson. Wer war er eigentlich? Selbstverständlich konnte er hart und gefühlskalt sein, wenn es um Geschäfte ging. Reiche Leute definierten sich häufig über ihr Geld. Aber der Schritt dahin, über Leben oder Tod zu bestimmen …
Calle ging nach vorne zum Busfahrer.
»Entschuldigen Sie, nur eine Frage. Wie komme ich nach Hittarp?«
»Tja, da müssen Sie die 219 nehmen«, antwortete der Fahrer in breitem Schonendialekt.
»Und wo fährt die?«
»Sie sitzen schon drin.«
»Dieser Bus fährt also nach Hittarp?«
»Ja, sonst wäre es ja nicht die 219.«
Calle stand auf dem Schlauch. Wollte ihn der Busfahrer auf den Arm nehmen?
»Sie fahren also nach Hittarp?«, fragte Calle.
»Tja …«
»Ich verstehe nicht«, sagte Calle. »Soll das irgendein Witz sein?«
»Kleiner Scherz meinerseits. Verkraften Stockholmer das nicht?«
»Könnten Sie mir bitte Bescheid sagen, wenn wir in Hittarp sind?«
Calle nahm wieder Platz und schwor, sich niemals außerhalb der Stockholmer Innenstadt niederzulassen.
»Vielleicht sollten wir uns das Schwein noch mal vorknöpfen?«, meinte Gerda.
»Warum?«, fragte Karlsson.
Gerda zuckte mit den Achseln.
»Vielleicht ist er ja mittlerweile mürbe und erzählt uns, was
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