Entfuhrt
sie es nicht übers Herz gebracht, früher wegzuziehen. Haus und Straßen waren mit so vielen Erinnerungen verknüpft. Vermutlich hatten sie bleiben müssen, bis die Erinnerungen so weit verblasst waren, dass sie mit ihnen umgehen konnten.
Annika war sechzehn gewesen, als sie gestorben war.
Sechzehn. Sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt.
Mike schämte sich. Er tat, als hätte er ein Exklusivrecht auf das Leiden, saß da und käute alles immer und immer wieder, wurde ausfällig und suhlte sich in seinem Selbstmitleid. Obwohl ihm klar war, dass jeder Mensch sein persönliches Drama mit sich herumtrug, man musste nur ein wenig an der Oberfläche kratzen.
Göstas Verlust war größer als Mikes, wesentlich größer.
»Und?«, fragte er, sobald Mike das Büro betreten hatte. »Wer ist sie, diese Frau, mit der Sie Hand in Hand spazieren gehen?«
Mike wurde beinahe verlegen.
»Das ist Nour«, sagte er. »Eine Kollegin von Ylva. Wir sind uns zufällig wiederbegegnet, haben Kaffee getrunken. Dann kam sie zum Abendessen und so, tja.«
»Tja?«, sagte Gösta und zog die Augenbrauen hoch.
Mike lächelte nur.
»Gratuliere«, sagte Gösta. »Das haben Sie verdient. Sie sehen, das Leben kehrt zurück.«
»Vermutlich«, meinte Mike.
Gösta schob einige Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her.
»Und«, meinte er, lächelte freundlich und faltete die Hände. »Worüber wollen Sie heute sprechen? Das Herzklopfen?«
Mike lachte.
»Sieht man das so deutlich?«
»Allerdings«, erwiderte Gösta.
»Ich hatte geglaubt, dass ich nie wieder so empfinden könnte.«
»Das Leben ist wundersam.«
»Ich habe Angst davor, dass es vorübergehen könnte«, meinte Mike. »Denn so ist es immer.«
»Es kann in etwas anderes übergehen.«
»Das stimmt. So fühlt es sich an.«
»Na, dann gibt es darüber ja nichts weiter zu sagen.«
»Mit Ylva war es nicht so, glaube ich.«
»Nicht?«
»Nicht diese natürliche Verliebtheit.«
»Und was sagt Sanna?«
Mike lachte und sah Gösta intensiv an.
»Sie sind wirklich unglaublich. Ihre Fragen treffen immer ins Schwarze. Anfänglich war sie etwas misstrauisch. Das ist wohl so bei Veränderungen. Ich frage mich, ob das eine menschliche Eigenschaft ist, dass man das Neue scheut. Aber jetzt ist es besser. Vor einigen Tagen hat sie sich zwischen uns ins Bett gelegt. Wir sind fast wieder so etwas wie eine Familie.«
Gösta und Marianne saßen am Küchentisch. Sie tranken Kaffee und schauten aus dem Fenster. Beide hatten in der Zeitung gelesen, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag.
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Das ist irgendwie … Ich weiß nicht.«
Er sah seine Frau an.
»Du meinst, dass wir so leben?«, fragte sie.
Jetzt war Gösta an der Reihe, schweigend dazusitzen. Nicht aus taktischen Gründen, sondern weil ihm nichts einfiel. Er entsprach nicht den Erwartungen seiner Frau.
»Dir gefällt es«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Das stimmt nicht.«
»Doch, dir gefällt es. Und was noch schlimmer ist: Ihr gefällt es. Das kleine Flittchen glaubt, dass ihr ein Paar seid, du und sie. Sie wird sich verdammt noch mal nie umbringen. Du sollst sie mit Gewalt nehmen und nicht dich selbst befriedigen.«
Gösta schüttelte den Kopf.
»Hör auf«, sagte er.
»Ich soll aufhören?«
Sie starrte ihn an.
»Sie soll denselben Weg gehen wie Annika. Hast du das vergessen? Sie soll sich das Leben nehmen. Und wenn sie das nicht von sich aus tut, müssen wir ihr auf die Sprünge helfen.«
Gösta schwieg. Marianne starrte an die Decke und atmete tief durch, bis sie ihre Ruhe zurückgewonnen hatte.
»Wie lange soll das deiner Meinung nach noch weitergehen?«, fragte sie schließlich. »Das geht so nicht. Es ist das reinste Wunder, dass es so lange funktioniert hat. Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich glaube, du ziehst es deinetwegen in die Länge.«
»Hör auf!«
Gösta schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, eine kraftlose Autoritätsbezeugung. Marianne beschloss, darüber
hinwegzugehen, und wartete gespannt, was er weiter sagen würde.
»Ich habe das gleiche Ziel wie du«, sagte er. »Ich weiß nur nicht, wie es erreicht werden soll. Rein praktisch, meine ich.«
Marianne zuckte mit den Achseln.
»Das bis zur Decke geflieste Badezimmer«, sagte sie.
Gösta holte tief Luft und schaute aus dem Fenster. Marianne sah ihn an, ihm schien nicht wohl zu sein.
»Mein Gott«, sagte sie. »Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt, um sentimental zu werden.«
Sie stand auf und trug
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