Entfuhrt
geäußert hatte, hatte er natürlich vor, das Material zu verwenden. Eine junge, attraktive Frau, die drei ihrer engsten Freunde aus der Schulzeit verloren hatte, war ein ausgezeichnetes Lebensschicksal, für das es ganz klar einen Markt gab.
Aber jetzt war sie nicht verfügbar. Und deswegen wollte Calle mit ihrem Mann sprechen.
Worüber?
Ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut. War er etwas anderes als ein Parasit, der sich am Unglück anderer Menschen labte? Er beschloss, einen Spaziergang durch das Viertel zu machen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Häuser standen dicht an dicht. Es gab etliche alte Gebäude, aber auch einige neue mit riesigen Fensterfronten.
Er ging Richtung Meer. Linker Hand stand eine schauderhafte Riesenvilla am Hang. Ihm stieg der Geruch von Tang in die Nase. Als er ans Ufer kam, stellte er fest, dass Dachpfannen aus Eternit doch ganz passabel aussahen. Er ging nach rechts auf zwei Stege zu und schritt auf einem von ihnen dem Wasser entgegen.
Er blieb lange am äußeren Ende des Steges stehen. Rechts von ihm wurde der Horizont vom Kattegatt begrenzt, gerade vor sich hatte er die dänische Küste, und links pendelten die Fähren zwischen Helsingborg und Helsingör. Dahinter ahnte er die Insel Ven.
Obwohl er sich noch eine Stunde zuvor geschworen hatte, nie irgendwo anders als in der Innenstadt Stockholms wohnen zu wollen, erwog er jetzt, diesen Schwur zu brechen. Der Himmel war hier so unendlich weit und verheißungsvoll. Calle konnte verstehen, dass jemand, der hier aufgewachsen war, diesem Ort nur ungern den Rücken kehrte. Eine Möwe segelte geschickt auf dem Wind vorbei und lachte ihn aus. Calle drehte sich um und ging wieder ans Ufer.
Er folgte dem Ufer Richtung Norden und ging dann einen langen Hang hinauf. Nach einigem Suchen fand er den Gröntevägen wieder. Inzwischen stand ein Auto in der Auffahrt.
Calle zögerte. Ylva wurde laut Redaktionschefin des Familienjournals seit anderthalb Jahren vermisst. Was konnte man da fragen?
Ein Mann trauerte um seine verschwundene Frau. Sie ging eine Zeitung kaufen und kam nie mehr zurück …
Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.
Ganz klar, das war eine Story.
Mit einer Komplikation jedoch: Die Frau war verschwunden. Das machte den Mann automatisch verdächtig. Das Böse war ausnahmslos ein Mann, Punktum.
Wie sollte er die Sache angehen?
Mit der Viererbande, ganz klar. Allerdings ohne die Gruppe beim Namen zu nennen.
Calle schob den Gedanken beiseite. Er brauchte keinen Plan, er war Reporter, Illustrierten-Reporter. Das waren die Abgebrühtesten. Schade, dass der Rest der Welt das nicht auch so sah.
Er klingelte und hörte, wie sich rasche Kinderschritte auf der anderen Seite der Türe näherten. Ein Mädchen öffnete erwartungsvoll und schaute zu ihm hoch.
»Hallo! Ist dein Papa zu Hause?«
»Ja.«
Sie drehte sich um und rannte in die Küche.
»Papa!«
Mike trug eine Schürze und trocknete sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab. Er sah Calle fragend an, der rasch die Hand ausstreckte und ihm ein Lächeln schenkte, das er selbst für unwiderstehlich hielt.
»Hallo! Ich bin Calle Collin.«
»Hallo«, erwiderte Mike zögernd.
Er konnte nicht recht einordnen, wen er da vor sich hatte. Einen Zeugen Jehovas?
Die Tochter schaute interessiert zu.
»Ich habe die Breviksschule auf Lidingö besucht. Zur gleichen Zeit wie Ylva. Ich habe gehört, dass sie verschwunden ist, und würde gerne einen Augenblick reinkommen und mich mit Ihnen unterhalten.«
Mike schreckte aus seinen Gedanken auf. Nach einem kurzen Zögern erschauerte er.
»Klar. Kommen Sie rein.«
46. KAPITEL
Ylva stellte fest, dass Mike und Sanna nach Hause gekommen waren, und schaltete auf Fernsehen um. Gösta hatte ihr erst einen Monat zuvor das Fernsehen erlaubt. Die Sender waren ihr größter Luxus. Sie ließ den Fernseher die ganze Zeit laufen, um eine Geräuschkulisse und Gesellschaft zu haben.
Am Spätnachmittag liefen alte Sitcoms. Ylva mochte das Gelächter vom Band. Es erfüllte sie mit Wärme.
Sie hatte die Wäsche des Tages gebügelt und zwei Kerzenhalter geputzt, kurz gesagt, sie hatte einiges erledigt.
Der Herbst war schon recht weit fortgeschritten, und Ylva hatte seit Langem ihre Fluchtpläne ad acta gelegt. Sie war zweifellos, wie Gösta sagte, eine Idiotin. Aber mit ihren sexuellen Diensten war er trotzdem zufrieden. Er nannte sie ein Naturtalent, dazu geboren.
»Aber du hast ja auch viel Übung.«
Sie bedankte sich und
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