Entfuhrt
erdreistete sich zu fragen, ob sie sich nicht überlegen könnten, sie trotz allem das Haus putzen zu lassen. Sie versprach, gute Arbeit zu leisten.
Er antwortete, er würde darüber nachdenken. Ylva hatte das Gefühl, dass sie früher oder später die Chance bekommen
würde. Er war in letzter Zeit freigebig gewesen, großzügig mit Essen und Büchern.
Sie sah keine Veranlassung, dies durch einen Fluchtversuch aufs Spiel zu setzen.
»Moment mal«, sagte Mike und hob beide Hände.
Calle Collin verstummte. Er hatte gerade erklärt, dass er ursprünglich vorgehabt hätte, Ylva wegen des viel zu frühen Todes einiger ihrer Klassenkameraden zu interviewen, dass die Redaktionschefin des Familienjournals, die ebenfalls in dem Viertel wohne, ihn aber aufgeklärt habe, dass Ylva seit über einem Jahr verschwunden sei.
»Sie sind also Journalist?«, fragte Mike und sah äußerst missbilligend aus.
»Ich arbeite für Illustrierte«, sagte Calle. »Ich arbeite nicht bei den Abendzeitungen.«
»Und Sie wollen über Menschen schreiben, die tot sind?«
»Ja, nein, doch, aber …«
»Aber was?«, fragte Mike.
Er war hochrot im Gesicht, und seine Tochter sah ihn besorgt an.
»Ich fand das nur alles so merkwürdig«, meinte Calle.
»Was?«, fragte Mike.
»Drei von vieren sterben, und die Vierte ist verschwunden.«
»Wovon reden Sie? Drei von vieren? Was für vier?«
»Die Viererbande«, meinte Calle und schaute beschämt auf die Tischplatte.
Er hatte sich fest vorgenommen, Jörgens abwegige Ideen nicht weiterzuverfolgen, trotzdem saß er jetzt hier und plauderte alles aus. Als Rechtfertigung. Weil er sich dumm und aufdringlich vorkam und sich entschuldigen wollte.
»Die Viererbande?«, meinte Mike kopfschüttelnd.
Calle sah ihn an. Jetzt oder nie.
»Ylva war in der Mittelstufe mit drei Jungs befreundet. Johan Lind, Morgan Norberg und Anders Egerbladh. Zusammen versetzten sie die Schule in Angst und Schrecken. Morgan starb an Krebs. Anders wurde in Stockholm ermordet. Johan kam bei einem Verkehrsunfall in Afrika ums Leben. Ich dachte, dass da möglicherweise ein Zusammenhang besteht. Mit dem Verschwinden Ihrer Frau.«
Das Mädchen wandte sich an seinen Vater und sah ihn gespannt an.
Mikes Blutgefäße auf der Stirn schwollen an, er holte tief Luft, seine Lippen wurden ganz schmal. Als er sprach, war es mit ganz leiser Stimme.
»Ich habe noch nie von den Leuten gehört, die Sie eben erwähnt haben. Ich vermute also, dass sie keinen sonderlich nachhaltigen Eindruck bei meiner Frau hinterlassen haben. Wenn Sie nicht so viel Taktgefühl besitzen, trauernde Menschen in Ruhe zu lassen, werde ich mich bei Ihrer Chefin vom Familienjournal beschweren. Das werde ich so oder so tun. Ich will, dass Sie jetzt aufstehen, aus
meinem Haus verschwinden und sich hier nie wieder blicken lassen.«
»Also, ich wollte doch nur …«
»Sofort.«
Calle erhob sich und ging.
47. KAPITEL
Calle Collin legte seine Stirn an das Fenster des Flugzeugs, spürte das kalte Plexiglas an seiner Haut. Das Flugzeug beschleunigte, und er wurde in den Sitz gedrückt. Er flog nicht oft und stellte sich immer vor, wie das Flugzeug abstürzte und alle starben. In seiner Vorstellung befand sich die Maschine immer hoch in der Luft, brach ohne Vorwarnung in der Mitte durch, und die Passagiere wurden in die stille, kalte Luft geschleudert. Dort schwebten sie dann hilflos eine ganze Weile und konnten über ihre eventuellen Sünden nachdenken, bis die Erde in rasender Geschwindigkeit auf sie zukam.
Dieses Mal war Calles Kopf jedoch mit anderen Szenarien beschäftigt. Er sah vor seinem inneren Auge, wie Michael Zetterberg sich mit der Redaktionschefin des Familienjournals in Verbindung setzte. Vielleicht rief er sie an, vielleicht begegneten sie sich zufällig beim Sonntagsspaziergang.
Michael Zetterberg erzählte ihr, was geschehen war. Ein verrückter Reporter aus Stockholm habe ihn aufgesucht und mit ihm über Ylvas Verschwinden sprechen wollen. Er hätte angedeutet, dass sie nicht gerade ein Engel gewesen
sei, hatte von toten Klassenkameraden geschwafelt und war allgemein penetrant aufdringlich gewesen. Außerdem hatte er behauptet, für das Familienjournal zu arbeiten. Stimmte das?
Calle sah vor seinem inneren Auge, wie die Redaktionschefin mit verbissener Miene und zunehmender Verärgerung zuhörte und zugab zu wissen, von wem Ylvas Mann spreche, aber dass dies vollkommen abwegig klinge. Sie beteuerte, sofort den Reporter anzurufen und diesen
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