Enthüllung
erreicht, auf den Seiten stand nur mehr irgendwelcher Weihnachtsschrott. Ein Foto mit Garvin und seiner Familie (»Der Chef wünscht fröhliche Weihnachten! Ho ho ho!«) ließ ihn innehalten, denn es zeigte Bob mit seiner früheren Frau. Drei Kinder im Collegealter standen um einen großen Weihnachtsbaum herum.
War Garvin damals schon mit Emily befreundet gewesen? Niemand hatte das jemals erfahren. Garvin war gerissen. Man wußte nie, was er vorhatte.
Sanders nahm sich den Stapel mit dem folgenden Jahr vor. Die Verkaufsprognosen für Januar (»Packen wir’s an – lassen wir es Wirklichkeit werden!«). Die Eröffnung der Fabrik für die Produktion von Mobiltelefonen in Austin, Texas – ein Foto von Garvin in grellem Sonnenlicht, die Schere am Band. Ein kurzes Porträt von Mary Anne Hunter, das folgendermaßen begann: »Die muntere, sportliche Mary Anne Hunter weiß, was sie vom Leben will …« Noch Wochen danach hatte man sie in der Firma »unsere Muntere« genannt, bis Mary Anne fast auf Knien bat, damit aufzuhören.
Sanders überflog die Seiten. Vertrag mit Irland über den Bau einer Fabrik in Cork. Die Verkaufszahlen für das zweite Quartal. Das Ergebnis des Basketballspiels gegen Aldus. Dann ein Text in schwarzer Umrandung:
JENNIFER GARVIN
Jennifer Garvin, die im dritten Jahr Jura an der Boalt Hau School of Law in Berkeky studierte, starb am 5. März bei einem Autounfall in San Francisco. Sie wurde 24 Jahre alt. Jennifer hatte für die Zeit nach ihrem Studienabschluß bereits eine Anstellung bei der Kanzlei Conley, Wayne und Myers. An dem Gedenkgottesdienst in der Presbyterianerkirche von Palo Alto nahmen Freunde und Verwandte sowie zahlreiche Studienkollegen von Jennifer teil. Statt Blumen werden Spenden an den Verein »Mütter gegen Trunkenheit am Steuer« erbeten. Alle Mitarbeiter von Digital Communications bekunden der Familie Garvin ihr aufrichtiges Beileid.
Sanders erinnerte sich, wie schwierig diese Zeit für alle gewesen war. Garvin war damals ständig mürrisch und sehr unzugänglich, er trank zuviel und erschien häufig nicht zur Arbeit. Kurz darauf wurden seine Eheprobleme bekannt; zwei Jahre später war er geschieden und wenig später mit Emily Chen verheiratet, einer jungen leitenden Angestellten Mitte 20. Aber auch so manches andere hatte sich verändert. Alle waren sich einig: Seit dem Tod seiner Tochter war Garvin nicht mehr derselbe Chef.
Garvin war immer ein Draufgänger gewesen; jetzt aber war er vorsichtiger geworden, hatte seinen skrupellosen Ehrgeiz verloren. Einige meinten auch, ihm sei seine berühmte Spürnase abhanden gekommen, aber das war es nicht. Die Willkürlichkeit des Lebens war ihm einfach wieder bewußt geworden, und das führte dazu, daß er alles viel stärker unter Kontrolle haben wollte als zuvor. Garvin war immer Mr. Evolution gewesen: Setz das Küken irgendwo in der Wildnis aus und warte ab, ob es frißt oder stirbt. Diese Einstellung hatte einerseits einen knallharten Geschäftsmann, andererseits aber auch einen ung e wöhnlich fairen Chef aus ihm gemacht. Wenn man ordentlich arbeitete, erkannte er das an; wenn man nichts brachte, war man weg vom Fenster. Jeder kannte die Regeln. Aber nach Jennifers Tod wurde alles anders. Plötzlich hatte Garvin offenkundige Lieblingsangestellte und Lieblingsprojekte, und diese Lieblinge zog er sich heran, während er alles andere mißachtete, auch wenn das Gegenteil richtig gewesen wäre. Immer unbereche n barer waren seine geschäftlichen Entscheidungen geworden. Garvin wollte, daß alles so geschah, wie er es sich vorstellte. Dieser Drang erfüllte ihn mit neuem Elan, mit neuen Visionen über die Entwicklung der Firma, doch die wurde dadurch auch zu einem anstrengenderen Arbeitsplatz – zu einem Arbeitsplatz, an dem Taktik und Berechnung viel mehr zählten als früher.
Diesen Trend hatte Sanders vollständig ignoriert. Er verhielt sich, als arbeitete er noch für die alte DigiCom – für die Firma, in der nur die Resultate zählten. Daß es diese Firma nicht mehr gab, war jedoch offensichtlich.
Sanders blätterte weiter. Artikel über erste Verhandlungen über eine Fabrik in Malaysia. Ein Foto von Phil Blackburn in Irland, aufgenommen im Moment der Unterzeichnung eines Abkommens mit der Stadt Cork. Neue Produktionszahlen für die Fabrik in Austin. Produktionsbeginn des A22-Cellularmodells. Geburten, Todesfälle, Beförderungen. Und noch mehr DigiCom-Baseballergebnisse.
JOHNSON ÜBERNIMMT POSTEN IN DER
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