Enthuellungen eines Familienvaters
einem Auto durch die Straßen dieser ungewöhnlichen Stadt lotsen zu lassen.
Einige Jahrhunderte lang hatten die Mailänder eine traurige Existenz: sie bewegten sich ausschließlich über die Dächer und Dachtraufen fort. Sie begannen erst auf die Straßen zu gehen, als die Straßenverkehrsordnung erfunden wurde.
Seither ist der Mailänder Verkehr etwas Wunderbares. Man kann an den wichtigsten Kreuzungen von Mailand nicht selten Dichter und Musiker sehen, die das Geheimnis jener erhabenen Harmonie von Rot, Gelb und Grün, von raschem Stehenbleiben und donnerndem Losbrausen zu erfassen suchen.
Freilich, es gibt in dieser ungewöhnlichen Stadt auch neuralgische Punkte. Dort gewinnt der Verkehr eine solche Vollkommenheit, eine so unerbittliche Präzision, daß sich die treffliche Dame, die ruhig lesend die Straße überquert, unversehens rittlings auf der Kühlerhaube eines Lastautos befindet, während ein Lieferwagen nach einer köstlichen Drehung um sich selbst kurz entschlossen in einer Drogerie steckenbleibt, gefolgt von den wichtigsten Teilen einer Straßenbahn.
Man muß anerkennen, daß alles organisiert ist, und das geht so weit, daß sich zwei neue Berufe entwickelt haben: der des Augenzeugen und der des Photographen für Straßenunfälle. Das sind ehrenwerte Professionals, die den ganzen Tag auf den neuralgischen Punkten herumstehen und deren genaue Augen- und Photozeugnisse es erlauben, jede Kontroverse im Hinblick auf Verantwortung und Schadenersatz mit größter Leichtigkeit in Ordnung zu bringen.
Trotzdem macht es mir keinen Spaß, mich von einem Auto durch die Straßen von Mailand lotsen zu lassen. Es ist besser, man bewegt sich per Straßenbahn oder zu Fuß, doch ohne sich auf ein Ziel festzulegen. Man läßt sich überraschen.
Wenn man Glück hat, kommt man in einer Stunde in die Galerie, in der die Leute nicht zaudern würden, sich mit einer Spitzhacke zu bewaffnen und unterirdische Zugänge zu graben, um einen Aperitif zu ergattern.
Man kann auch den berühmten Markt von Senigallia entdecken; er ähnelt einer Wüste, an der sich das Strandgut von tausend Schiffbrüchigen des täglichen Lebens ablagert. Man muß dort an alte, schwarzgekleidete Frauen mit langgriffigen Schirmen denken, die allein in dunklen und feuchten Zimmern leben, die eines Tages erlöschen, und die Hausbesorgerin merkt es zufällig zwei Tage später. Da kommen dann Leute mit einem Lastwagen, räumen in zwei Stunden alles aus, werfen das einbalsamierte Hündchen auf das Pflaster, dazu das Bild mit der Locke des toten Kindes, das alte Trichtergrammophon mit der Adelina-Patti-Platte, den seit dreißig Jahren im Schrank aufbewahrten Bratenrock des Gemahls und das Befähigungszeugnis für das Lehramt an Elementarschulen.
Ich habe das alles gesehen. Ich. habe auch eine Menge antiquarischer Bänder von Grabkreuzen mit Goldpapier-Buchstaben gesehen. Ein alter Mann wühlte gerade in dem Pack. Er suchte ein Band, auf dem geschrieben steht: „Der Enkel.“ Es war keines da. So begnügte er sich mit einem, auf dem geschrieben stand: „Der Schwager.“
Ein Mann im Overall wählte bedächtig aus einem Haufen Fahrradreifen den am wenigsten zerfetzten aus.
Man sah auch Vögel in Käfigen. Lebend, aber trotzdem antiquarisch.
Als ich P. verließ, teilte mir die sentimentale Kassiererin meines Espressos mit, Mailand sei im Winter am schönsten, weil es einen nordischen Zauber besitze. Ich finde Mailand hauptsächlich im Herbst und im Frühling schön, weil es den Zauber von Mailand besitzt. Und es gefällt mir auch im Sommer, wenn am Sonntagnachmittag der weiße Schutzmann auf einem verlassenen Platz wie eine Fata Morgana aussieht.
Alle Jalousien sind dann geschlossen, und auf den menschenleeren Straßen machen die Straßenbahnen und Autobusse einen Höllenlärm; aber gegen Abend erwacht Mailand. Die Leute kommen von den Seen oder vom Meer zurück.
Das Verlangen, Wasser zu sehen, ist eine fixe Idee der Mailänder. An jedem sommerlichen Sonntagmorgen eilen sie auf der Suche nach Wasser davon, und am Abend kommen sie zurück: Motorräder, Fahrräder, Tandems und Autos, alle Typen von der 501 bis zum Topolino, aber vorwiegend Autos, die nur an Feiertagen aus der Garage geholt werden, alte Maschinen, Familienerbstücke. Bisweilen macht so eine alte 501 auf der sonnendurchglühten Straße drei oder vier Huster und bleibt stehen. Das Benzin ist ausgegangen, die nächste Tankstelle ist wenigstens zwanzig Kilometer entfernt. „Los, Alte“,
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