Entmündigt
nervösen Störungen, war von normalem Empfinden, hatte mit 20 Jahren ihr erstes intimes Liebeserlebnis während eines Urlaubs am Tegernsee, zeigte bei einigen eingestreuten Testfragen eine überdurchschnittliche Intelligenz und Reaktionsfähigkeit und war völlig normal ansprechbar, bis auf den Komplex Familie.
Von all diesen Dingen ahnte Gisela nichts. Sie fühlte sich wieder müde und sehnte sich nach Ruhe.
»Wie lange brauchen Sie eigentlich noch, um festzustellen, daß ich nicht verrückt bin?« fragte sie.
Professor v. Maggfeldt schlug in gespielter Verzweiflung die Hände über dem Kopf zusammen.
»Noch? Noch haben wir doch gar nicht angefangen. Einige – einige Tage werden Sie schon hierbleiben müssen …«
»Einige Tage …« Die Augen Giselas weiteten sich vor Schrecken. »Ich … unter lauter Irren …«
»Sie werden keinen unserer Kranken sehen.«
»Ich habe Angst, Herr Professor!«
»Angst«, sagte er begütigend. »Gerade Sie brauchen doch keine Angst zu haben. Sie werden hier wohnen wie in einem großen Hotel. Mit allem Komfort. Sie bekommen ein Einzelzimmer …«
Oberarzt Dr. Pade notierte wieder. Isolation, Nr. 14, schrieb er. Dann stand er auf und ging hinaus, um dem Stationsarzt Bescheid zu sagen.
»Und Sie versprechen mir noch einmal, Herr Professor …?« fragte Gisela. Beruhigend legte Maggfeldt seine schmale Gelehrtenhand auf ihre blonden Locken.
»Ich verspreche Ihnen, daß alles, alles nur zu Ihrem Besten geschieht.«
Er stützte sie, als sie von der Couch aufstand. »Und nun kommen Sie bitte mit. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Es lag im ersten Stockwerk, hatte einen wunderschönen Blick über den Park und die Rosenbeete, war eingerichtet wie ein modernes Hotelzimmer, in hellen, nicht aufregenden Pastellfarben. Nur ein starkes Drahtgeflecht vor dem Fenster störte etwas.
»Es ist wegen der Mücken«, sagte Maggfeldt. »Vom Teich her kommen sie gern abends in die Zimmer …«
Dann war Gisela allein. Die Tür hatte sich geschlossen. Eine Tür ohne Klinke.
*
Die Testamentseröffnung fand im Nachlaßgericht statt. In schwarzen Kleidern und Anzügen saßen die Erben Bruno Peltzners vor dem breiten Schreibtisch. Anna Fellgrub, die verwitwete Schwester des Toten, zerfetzte zwischen ihren Fingern ein Taschentuch. Ewald Peltzners kapriziöse Tochter Monique kontrollierte immer wieder mit den Handballen den Sitz ihrer gelackten Locken. Gisela Peltzner starrte vor sich hin auf den Teppich. Der junge Heinrich Fellgrub, neben seiner Cousine Gisela, fingerte an seinem schwarzen Schlipsknoten. Nur Ewald Peltzner war ruhig. Man muß Siege ebenso ertragen können wie Niederlagen. Für ihn bedeutete diese Stunde den großen Schritt seines Lebens. Generaldirektor der Peltzner-AG. Unabhängig. Millionär. Kein Bruder mehr, der mahnte, der Vorhaltungen machte, der etwas fordern konnte.
Der Richter überblickte den kleinen Kreis, er konnte sich des Verdachts nicht erwehren. Er wußte, daß hier Trauer nur gespielt wurde. Gisela, Bruno Peltzners einzige Tochter, ausgenommen …
»Ich zerbreche vor Ihren Augen das Siegel des Testamentes«, sagte er laut. »Bitte, sehen Sie zu.«
Anna Fellgrub schluckte krampfhaft. Der Richter nahm den Brief hoch und zerbrach die roten, dicken Siegelkleckse. Dann öffnete er das Kuvert und entnahm ihm einige zusammengefaltete Bogen.
Monique reckte den Kopf vor. Ewald Peltzner war genötigt, ihr einen kleinen Rippenstoß zu geben. Schmollend ließ sie sich zurücksinken.
»Ich verlese jetzt«, sagte der Richter. »Eine Abschrift des Testaments wird jedem von Ihnen später zugestellt.«
»Wir hören!« sagte Ewald Peltzner, der neue Chef der Familie. Es klang wie eine Fanfare. Herbei, ihr Millionen!
Der Richter hob das erste Blatt an die Augen.
»Mein letzter Wille.
In meinem ganzen Leben war ich kein Mann, der viele Worte um Dinge machte, die selbstverständlich sind. So ist auch mein Testament knapp und klar, ich schreibe es im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte, und ich verpflichte meinen Anwalt, Herrn Notar Dr. Michelberg, auf die genaue Ausführung meiner Bestimmungen zu achten. Vor allem meine Verwandtschaft soll dieses Testament respektieren …«
»Selbstverständlich!« warf Ewald Peltzner ein. Der Richter sah zweifelnd auf, ehe er weiterlas. Anna Fellgrub hatte ihr Taschentuch völlig zerfetzt, in kleinen Streifen lag es zwischen ihren zitternden Händen auf ihrem Schoß.
»Zunächst das Wichtigste, was meine Hinterbliebenen
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