Entmündigt
geschehen.
»So etwas hätte Blücher standrechtlich erschossen!« sagte die Generalswitwe streng. Sie nahm mit spitzen Fingern eine kandierte Frucht und steckte sie in den Mund …
Eine halbe Stunde blieb Frau Paulis im Pavillon 3, wo die beiden jetzt wohnten, dann war sie froh, wieder draußen zu sein. Schwester Erna begleitete sie wieder.
»War … war ich früher auch so?« fragte Frau Paulis stockend.
Schwester Erna antwortete vorsichtig, denn auch bei Geheilten wirkt ein falsches Wort oft wie ein Keulenschlag: »Es war anders mit Ihnen.«
»Noch schlimmer?«
»Nein … anders. Aber jetzt sind Sie ja völlig gesund.«
Frau Paulis nickte und ging nachdenklich durch den Park, dem weißen, schloßähnlichen Hauptgebäude zu. An den Beeten wurde emsig gearbeitet. Eine Gruppe leicht Schizophrener schnitt die Rosen. Drei Wächter standen um sie herum und beobachteten sie. Eine Rosenschere ist ein gefährliches Instrument in der Hand eines Irren, auch wenn er im Augenblick fast normal scheint. Ludwig trottete vor den beiden Frauen. Er blieb stehen, sah hinüber zu den Gärtnern und wedelte wieder mit dem buschigen Schwanz.
In der vorderen Gruppe der Schizophrenen entstand plötzlich Bewegung. Ein junger Mann, der vor einem Rosenbeet kniete, hatte von unten her den großen Bernhardiner gesehen. Er hielt mit dem Schneiden inne, starrte den Hundekopf an, und sein Mund verzog sich zu einer schrecklichen, angsterfüllten Grimasse. Dann brüllte er plötzlich auf, erhob die Hand mit der Gartenschere und stürzte vorwärts, auf den Hund zu.
»Der Teufel!« schrie der Irre grell. »Da ist er … der haarige Teufel! Hab' ich dich endlich! Hab' ich dich endlich! Der Teufel! Der Teufel!«
Die drei Wärter jagten ihm nach. Frau Paulis und Schwester Erna sahen mit aufgerissenen Augen den Tobenden auf sich zulaufen. Da begannen sie auch zu laufen. »Ludwig! Komm!« rief Frau Paulis dabei. »Komm! Komm! Ludwig!«
Der Bernhardiner dachte nicht daran, ihnen zu folgen. Seine Aufgabe war es, seine Herrin zu schützen. So blieb er stehen, senkte nur etwas den Kopf und starrte aus rotumlaufenen Augen dem anstürmenden Irren entgegen.
Noch zwei Meter … noch einen Meter … »Der Teufel!« heulte der Kranke. »Der Teufel! Ich werde ihn erstechen!«
In diesem Augenblick sprang Ludwig hoch. Er faßte mit den mächtigen Zähnen die Hand, die die Schere hielt, am Gelenk und biß zu. Selbst durch das Schreien des Irren meinte man den knackenden Laut zu hören, mit dem die Knochen brachen. Dann fiel der Kranke nach hinten um, schlug mit dem Kopf auf den Weg und streckte sich stumm unter dem schweren Hundeleib.
Als die Wärter heran waren, stand Ludwig schon wieder neben dem Körper. Wie schuldbewußt senkte er den Kopf und ließ den Schweif hängen. Die Wärter knieten bei dem Liegenden nieder. Das Gesicht war noch verzerrt und bläulich angelaufen. Entsetzen stand in den weit aufgerissenen Augen. Aber sie waren gläsern und reglos.
»Aus!« sagte einer der Wärter. »Tot!«
»Ich bin nicht schuld …«, stammelte Frau Paulis. »Ich bin nicht schuld … Sie können es bezeugen, Schwester … Und auch Ludwig kann nichts dafür. Man soll mir meinen Ludwig in Ruhe lassen … Wehe, wenn man meinem Ludwig etwas tut …«
*
Die von den beiden psychopathischen Mördern ausgelösten Presseangriffe gegen alles, was mit Psychiatrie zu tun hatte, hielten noch immer an. Vor allem nach der Feststellung, daß die beiden Irren nicht verurteilt werden konnten, da sie als schwere, hoffnungslose Fälle außerhalb aller Strafverfolgung standen, schlug die öffentliche Empörung erneut Wellen.
»Mörder, legt euch einen Tick zu!« schrieb eine große Zeitung. »Sagt, ihr seid die Wiedergeburt des Nero, und die Nervenärzte schützen euch vor Zuchthaus und Galgen!«
Professor v. Maggfeldt schwieg zu diesen Auslassungen. Was sollte er darauf antworten? Vernünftige Diskussionen waren nicht mehr möglich, und es war auch nicht ratsam, die Ohnmacht der Psychiatrie öffentlich zu bekennen. Der ständige Zwiespalt zwischen Gesetz und ärztlicher Erfahrung hatte immer dazu geführt, im Katastrophenfall den Ärzten die Schuld zuzuschieben. Behielt man die Kranken aus Vorsicht länger in der Anstalt, so drohte ein Verfahren wegen Freiheitsberaubung … entließ man sie frühzeitig und es geschah später etwas, so war es strafbare Fahrlässigkeit. Das Problem der Psychiatrie aber, keine hundertprozentigen Prognosen stellen zu können, wurde nicht
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